Seite - 180 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 180 -
Text der Seite - 180 -
Figurenpsychologie, sondern jeweils als unmittelbare sprachliche Reaktion auf
das zuvor GeĂ€uĂerte :
»Ein Satz scheint den vorigen zu verdrĂ€ngen, ein Prozess des sprachlichen Ăberlagerns
und ĂberschĂŒttens bestimmt das Buch.«418
Insofern muss Scheidl beigepflichtet werden : Der Roman ist tatsÀchlich ein »gi-
gantischer Monolog«419 der Autorinneninstanz, die sich von einem Satz zum
nÀchsten tragen lÀsst und die eigentliche Hauptrolle spielt.
Auf diese Form von nicht linear lesbarer, auch sprachlich letztlich nicht fass-
barer Literatur muss der Leser sich also einlassen, wenn er der angeblichen »Un-
lesbarkeit«420 des Romans nicht unterliegen will. Wer sich statt mit der Hoff-
nung auf das »groĂe österreichische Gesamtkunstwerk«421 mit analytischem
Interesse und profundem Basiswissen ĂŒber Jelineks Ă€sthetische Verfahren dem
Roman nĂ€hert, wird nicht enttĂ€uscht werden. Zum reinen LesevergnĂŒgen kann
freilich nicht darauf zurĂŒckgegriffen werden.
An den genannten Ungenauigkeiten, die auch in SekundÀrtexten profun-
der Jelinek-Kennerinnen bestehen, kann abgelesen werden, dass es tatsÀchlich
schwierig ist, klare HandlungsstrÀnge aus »Die Kinder der Toten« herauszufil-
tern und zu plausiblen Textinterpretationen zu gelangen. Es kann daher nur die
Aufgabe jeder weiteren (und auch der hier angebotenen) Deutungsvariante sein,
mehr Klarheit zu schaffen und Jelineks Roman, dem der Ruf der Unlesbarkeit
anhaftet, fĂŒr gewillte Leser zugĂ€nglicher zu machen.
In der folgenden Analyse soll daher versucht werden, so prÀzise und eindeu-
tig wie möglich in HandlungsgerĂŒst und Strukturen des Romans einzufĂŒhren,
dabei aber die von der Autorin gesetzten Leerstellen zu respektieren, um auf
diese Weise eine Interpretation zu erhalten, die textnahe und gleichzeitig nach-
vollziehbar ist.
Zu diesem Zweck wird zunÀchst der formale Rahmen abgesteckt, in welchem
der Roman situiert ist. Um in Aufbau und Strukturierung einzufĂŒhren, wer-
den in einem weiteren Schritt die wichtigsten RĂŒckbezĂŒge auf wahrscheinliche
PrÀtexte geschildert. Damit ist die KomplexitÀt des Romans jedoch noch nicht
annÀhernd erfasst. Um in weiterer Folge zu verdeutlichen, welche Alltags- und
Trivialmythen in »Die Kinder der Toten« als rekurrente Textbausteine aufgegrif-
fen werden und mit welchen Mitteln die Autorin den Zusammenhang dieser
418 Ebd.
419 Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 149.
420 Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 207.
421 Radisch, Maxima Moralia, unpaginiert.
180 | LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge
Open Access © 2017 by BĂHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KĂLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319