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Selbstständiges Denken und Handeln seien demnach im Rahmen der christli-
chen Religionsausübung nicht erwünscht. Nicht zuletzt muss an dieser Stelle er-
gänzt werden, dass die römisch-katholische Kirche tatsächlich jenen Antisemitis-
mus über Jahrhunderte hinweg befördert hat, auf dem die rassistische Logik des
deutsch-österreichischen Faschismus in den 1930er Jahren aufbaute : So wurden
die Juden als »Gottesmörder« denunziert, indem ihnen zu Unrecht die Kreuzi-
gung Jesus’ angelastet wurde, auch an der Ausbreitung der Pest im Mittelalter
seien sie wegen angeblicher Brunnenvergiftung schuld gewesen.492 Sogar nach
1945 gab es von Seiten kirchlicher Würdenträger Anschuldigungen, die Juden
hätten den Holocaust erfunden (»Auschwitz-Lüge«).493 Diese mitunter willkür-
lich moralisierende und urteilende Kirche steht in »Die Kinder der Toten« im
Kreuzfeuer der Kritik. Darüber hinaus schwebt über all dem die Frage, wie ein
gerechter Gott das Geschehene, den Holocaust als den Superlativ des Unheimli-
chen und der Entmenschlichung, zulassen konnte. Der in »Die Kinder der Toten«
dargelegten Kritik an der römisch-katholischen Kirche soll an dieser Stelle entge-
gengehalten werden, dass nicht nur mit dem Katholizismus, sondern letztlich mit
jeder Religion im Laufe der Menschheitsgeschichte Missbrauch getrieben wurde,
indem religiöse Ideale zweckentfremdet und Glaubensangehörige fanatisiert
wurden. Da Jelinek ihre Texte immer sehr stark auf österreichische Verhältnisse
fokussiert, kann die Auseinandersetzung mit der hierzulande dominierenden rö-
misch-katholischen Kirche dennoch als folgerichtig begriffen werden.
Das den Roman begleitende Untotenmotiv (»… die Unheimlichkeit taucht
ein, beginnt ihre freie, kühle Bahn«494) stellte 1995 innerhalb des Jelinek’schen
Œuvres tatsächlich kein Novum dar. Mit den Vampirinnen aus dem Theater-
stück »Krankheit oder Moderne Frauen« hatte die Autorin das originär Un-
heimliche bereits in den 1980er Jahren zum Thema eines ihrer Texte gemacht.
Das Motiv entspricht dabei ihrem in theoretischen Schriften und Interviews be-
reits mehrfach geäußerten Anspruch, entindividualisierte Charaktere schaffen
zu wollen, deren Schablonenhaftigkeit und Austauschbarkeit vorgeführt werden
sollen.495 Jelinek habe sich von Anfang an literaturästhetisch im Einklang mit
Roland Barthes’ dekonstruktivistischen Theorien befunden, meint dazu die Ger-
492 Vgl. etwa Schoeps/Schlör, Bilder der Judenfeindschaft.
493 Zuletzt sorgte der von Marcel Lefevbre 1988 zum Bischof geweihte Priester Richard Wil-
liamson für Aufsehen, als dieser 2009 in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen
öffentlich die Existenz von Gaskammern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern
bestritt. Die von Johannes Paul II. wegen der unerwünschten Bischofsweihe verhängte Ex-
kommunikation hob Papst Benedikt XVI. wieder auf, was zu Kontroversen innerhalb der rö-
misch-katholischen Kirche führte. Vgl. Benz, Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2, S. 888 f.
494 KDT, S. 622.
495 Vgl. die Kapitel 1.6.1 sowie 3.1.3 dieser Studie. 193
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319