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penrose« verschütten. In beiden Romanen ist jedoch die Unausweichlichkeit der
Sühne von Anfang an erspürbar, wodurch sich atmosphärische und motivische
Ähnlichkeiten ergeben. Das Unheimliche, das wie ein Damoklesschwert über
beiden Szenerien hängt, ist auch bei Lebert in einer seltsamen Ich-Verdoppelung
wiederzufinden, die die beiden Figuren Maletta und Unfreund betrifft : So
sucht der Fotograf Maletta stets die Nähe des eigenbrötlerischen Matrosen
Unfreund. Dieser fragt sich wiederum, ob er den seltsamen Fotografen, den er
nicht abzuschütteln vermag, aus seinem früheren Leben vielleicht kennt :
»›Der hat doch in meiner Erinnerung einen Geheimplatz. Dem bin ich doch schon
irgendwo begegnet.‹«554
Etwas später erschreckt er darüber, dass sein (ihm eigentlich unsympathisches)
Gegenüber dieselben Gedanken zu haben scheint wie er selbst :
»›Hergott noch einmal ! Wie geht denn das zu ? ! Das sind doch meine eigenen Gedan-
ken ! Das hätte ich ebenso selber gesagt haben können !‹«555
»›Bist du etwa vor dir selbst geflüchtet ? Und sitzt du dir jetzt glücklich selber gegen-
über ?‹«556
»›Wie geht das denn zu ? ! Sitze ich mir wirklich selber gegenüber ? Oder kann
der Mensch Gedanken lesen ? Stiehlt er mir meine Gedanken und macht daraus
Worte ?‹«557
Das Gefühl, sich selbst in einem anderen wiederzufinden, verschafft Johann
Unfreund Unbehagen. Und doch kann er sich ihm nicht ganz entziehen :
»Er hatte unvermittelt das Gefühl, statt seiner könnte ihm Karl Maletta im Spiegel
erscheinen, ein Gefühl, als läge dieser Vergessene, dieser Verdammte schon ein Leben
lang hinter dem fleckigen Glas auf der Lauer.«558
Auch Maletta spürt die Ich-Widerspiegelung in dem Matrosen, dessen Nähe
er von Anfang an gesucht hatte, und erklärt sich ihm schließlich :
554 Ebd., S. 359.
555 Ebd., S. 361.
556 Ebd., S. 363.
557 Ebd., S. 366.
558 Ebd., S. 367.
202 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319