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Untoten, die sich aufgrund ihrer historischen Schuld »selbst ständig vernichten
müssen«594 :
»Wir implodieren in unsere Schuld hinein und können nicht mehr getötet werden, weil
wir längst schon tot sind.«595
In »Die Kinder der Toten«, wo die Entlebendigung der Jelinek’schen Figuren
ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, ist auch das Leben ein MythosÂ
– eine
Form ohne Inhalt. Insofern kann die Bedeutung der polyphonen Erzählinstanz
für die Textaussage gar nicht überschätzt werden : Ein »gigantischer Mono-
log«596 sei der Roman, schreibt Scheidl und irrt nicht. Plot und Figuren in »Die
Kinder der Toten« sind sekundär, auch die Erzählinstanz ist nur als Schablone
zu verstehen. Wichtig ist wieder die Sprache : Nicht die Frage, was erzählt wird,
sondern wie erzählt wird, steht dabei im Mittelpunkt. Das polyphone Erzähl-
konzept kann daher als eine der wesentlichen Ă„uĂźerungsformen von Jelineks
Kritik am Fortwirken des österreichischen Opfermythos begriffen werden.
3.2.5.2 Selbstthematisierungen
»Eine Trennung der Person Jelinek oder ihres
Handelns von ihren Texten ist unmöglich.«597
Im Sinne des mehrstimmigen Erzählens finden sich auch indirekte sowie di-
rekte Selbstthematisierungen Jelineks (»Selbstinszenierungen«598) im Roman
wieder, etwa wenn sich die Erzählerin über ihre »eigene Berufung zur Drama-
tikerin«599 freut oder wenn sie beklagt, dass sie zu denjenigen gehöre, die »nicht
gern gehört«600 werden. Auch die selbstironische Reflexion fehlt nicht :
»… weil wir alle miteinander so viel dazwischen schwätzen ! Gilt besonders für
mich !«601
594 Jelinek, Das Hundefell, S. 108.
595 KDT, S. 456.
596 Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 149.
597 Scholl, Selbstinszenierungen, S. 96.
598 Begriff von Scholl. Dieser bezieht sich in erster Linie auf die Selbstthematisierungen Jelineks
in ihren TheaterstĂĽcken, verweist aber immer wieder auch auf Prosawerke.
599 KDT, S. 78.
600 KDT, S. 219.
601 KDT, S. 49.
208 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319