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angekrochen und »heben drohend die Fäuste«723, »krallen sich«724 Fichten an
Erdreste, atmet die Talsohle »laut und schwer«725 oder schüttelt sich die Erde
»vor dem, was sich ihr in die Brust drängt« :
»… soviele Menschen, daß es geradezu das Gestein wegsprengt. Ja. Es wird ihr eng um
die Brust. Wir haben ihr die Luft abgeschnürt, obwohl wir ihr soviele Menschen ent-
nommen haben. Sie wurde uns nicht leichter dadurch.«726
An anderer Stelle wirkt die Natur weniger menschlich als vielmehr wie ein Tier.
Ist etwa der Regenschleier bei Lebert ein »blaugraue[s] Einhorn«, das mit »un-
beschlagenen Nebelhufen«727 durch breite Pfützen trottet, so tritt die Natur bei
Jelinek mitunter als hund- oder wolfsähnliches Tier in Erscheinung :
»Da kommt ein Wesen gekrochen, der Wald atmet plötzlich laut, er hechelt, als wäre er
zum Waldi geworden, woher nimmt er noch die Kraft dazu ? Man kann ja schon durch
sein Laub hindurchsehen !«728
»… launisch legt die Natur auf dies und jenes ihre Pranken, läßt wieder los, ohne zu be-
achten, daß der Spielkamerad von ihr vollkommen zerquetscht, zerfetzt worden ist. Sie
schnüffelt an den Stücken, heult ihr Lied ins Helle hinein, bis die Nacht kommt, und
dann heult sie ein anderes Lied, tief aus der Kehle heraus.«729
»… Moment, war da nicht ein Donnern ? Ja, da hat ihm einer glatt das Fell des zahmen
Waldes, der plötzlich zu einem wilden Untier geworden ist, über Nacken und Schultern
geworfen…«730
In »Die Kinder der Toten« entpuppt sich Österreichs Natur als etwas Unheim-
liches, denn der Mensch hat ihr längst seinen morbiden Stempel aufgedrückt,
zum einen durch die wirtschaftsorientierte Vergewaltigung ihrer Ressourcen,
zum anderen aber durch den »freigiebigen Umgang«731 dieses Landes mit seinen
Menschen : die willkürliche Ermordung tausender Menschen im Rahmen des
723 KDT, S. 130.
724 KDT, S. 126.
725 KDT, S. 443.
726 KDT, S. 126.
727 Lebert, Wolfshaut, S. 126 f.
728 KDT, S. 265.
729 KDT, S. 12.
730 KDT, S. 577.
731 KDT, S. 7. 229
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319