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pischerweise geraubt wurden, etwa das Haar, auf das in folgendem Wortspiel
hingewiesen wird :
»Was scheren wir die Toten, Nachwuchs gibt es genug, und der kann sich dann die
Haare wachsen oder auch ganz kurz stehen lassen, weil das auf dem Foto so fesch aus-
schaut.«747
Mit dieser Formulierung wird nicht nur (im übertragenen Sinne) ausgedrückt,
dass uns Österreicher die Toten nicht scheren, wir ihrer also nicht in dem gebo-
tenen Ausmaß und unter Einbeziehung der eigenen Schuld gedenken, sondern
zugleich auch, dass sie (im wörtlichen Sinne) tatsächlich geschoren wurden, denn
in den KZs wurde den Gefangenen meist das Haar abrasiert, bevor sie zur Stra-
farbeit oder ins Gas geschickt wurden – es hatte schließlich materiellen Wert,
ebenso wie andere persönliche Gegenstände, zum Beispiel Schmuck, Schuhe,
Brillen oder Goldzähne, die gesammelt wurden und welche die untoten Ho-
locaust-Opfer am Ende des Buchs mit im Gepäck haben, als sie zu Hauf die
»Pension Alpenrose« heimsuchen.
Das geschorene Haar der Shoah-Toten quillt im Roman immer wieder und
immer öfter unvermutet aus der Erde, aus Bergritzen oder Möbelstücken hervor
oder legt sich in anderen schaurigen Bildern über die Landschaft.
Die rekurrente Verwendung der Haar-Metapher erinnert an Paul Celans be-
rühmtes Gedicht »Todesfuge« :
»(…) Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus und spielt mit den Schlangen der
schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes
Haar Margarethe
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den
Lüften da liegt man nicht eng (…)
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
747 KDT, S. 29.
232 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319