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»Eine Stimme aus Halle fordert in fremdartigem Deutsch die Einhaltung dieses Ge-
bots Geschwindigkeitsbeschränkung, uralte Gehorsamkeiten zucken in den Pfoten die-
ser Frau, aber hierzulande beachtet man die Gebote der Behörden grundsätzlich nicht
so genau … Hier ist die Obrigkeit noch etwas, das grundsätzlich bekämpft gehört.«771
Auch mit Formulierungen wie dem »unverwechselbaren Ton der Unschuld«772,
in dem sich in der Pension eine österreichische Dame mit einer deutschen un-
terhält, wird auf die österreichische Selbstdefinition als Opfer aufmerksam ge-
macht.
Wie bereits im »Burg theater«-Stück stellt sich Jelinek auch in »Die Kinder
der Toten« gegen jedwede Konstruktion eines vermeintlichen Nationalcharak-
ters, indem sie diese als vorgeschobene Rechtfertigung Österreichs für den
Opfermythos entlarvt. Dieser ist in den folgenden Textpassagen sehr explizit
formuliert :
»Auf einmal, völlig zwecklos, ist die Vergangenheit wieder da, unmöglich sie zu lie-
ben. Wieso jetzt ? Wir haben sie doch gerade erst zum Einkaufen geschickt, in einen
Supermarkt, dort gibt’s Ersatz-Menschenteile, und jetzt ist sie schon wieder da. Wir
haben noch kein Kleingeld zum Herausgeben. Außerdem müssen erst die alten Vorräte
aus dem Kühlschrank unseres Gedächtnisses geräumt werden, wo sie aufgehoben und
aufgeschoben waren.«773
»Wir waren vorhin beim Gestein : man vermag es, wie das Gestern, nicht romantisch
zu betrachten, wenn man es fünf Zentimeter vorm Gesicht hat und keine Hand frei,
sich aus ihm vorzubringen : wir warens nicht ! Menschen verschwanden ! Ja, hier, aus der
Natur, diesem bänglichen Anfänglichen.«774
Mit diesen deutlichen Worten wird klargestellt : Wir waren es ! Wir sind schul-
dig ! Der Mythos des nationalen Opfers konnte nur funktionieren und über
Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten werden, indem sich ein Großteil der ös-
terreichischen Bevölkerung (die »Vielen«775 ?) aufs Schweigen verabredet hatte.
771 KDT, S. 10.
772 KDT, S. 23.
773 KDT, S. 15 f.
774 KDT, S. 16.
775 Lüdtke, Macht der Emotionen, S. 54. Bei Alf Lüdtke bezeichnen die »Vielen« jene, die sich
während der NS-Zeit weder aktiv in der NSDAP oder einer ihrer Organisationen noch im Wi-
derstand betätigt haben. Vgl. Kapitel
1.4.2 dieser Studie. Hier wird hingegen vielmehr die Frage
aufgeworfen, wie sich die »Vielen« nach 1945 verhalten haben mögen : Haben sie auch nach
dem Zusammenbruch des NS-Regimes stillgehalten und über das Geschehene geschwiegen ? 237
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319