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die Null-Promille-Regel. Der Alkoholeinfluss, der in Österreich zum guten Ton
gehöre, helfe dabei, bestimmte Geheimnisse zu bewahren :
»In unserem fleischigen Schweigen sind Geheimnisse verborgen, und zwar in Weinglä-
sern. Unser Wasser muß nur noch verwandelt werden.«786
»Der Schnaps … kreist in der Mitte dieser Menschen und hält sie zusammen.«787
Auch die Waldarbeiter in »Die Kinder der Toten« haben sich mit Alkohol »ge-
düngt«788, um die Grausamkeiten der Natur ertragen zu können, und das Blut
der Einheimischen enthalte schließlich »viele Prozente Verwirrung«789. In fol-
gender Passage ist zudem eine (hochprozentige) Andeutung versteckt, in wel-
cher der »Wein« mit dem »Weinen« in Verbindung gebracht wird :
»Wir öffnen uns unter dem Ansturm des Sturms, dieses trüben Weinens, das schon
gekeltert ist ; das ist auch schon das Unmittelbarste, was uns berührt.«790
An anderer Stelle wird der Wein als »Blutsaft der Massen«791 bezeichnet – eine
Formulierung, die wiederum sehr vampirisch anmutet und das Untotenmotiv
des Romans unterstreicht. Und schließlich finden sich auch sehr direkte Bezug-
nahmen auf die Verbrechen des Holocaust wie etwa in folgendem Wortspiel, das
eindringlicher kaum sein könnte :
»Ein Cousin der Wirtin brennt selber ! Ein paar Millionen brennen mit !«792
»Selber brennen« meint natürlich die Eigenherstellung von Schnaps, die »paar
Millionen«, die »mitbrennen«, bezeichnen hingegen die in den Hochöfen der
KZs verbrannten Opfer nationalsozialistischer Verfolgung – eine Parallele,
die landläufig wohl eher nicht hergestellt würde ; Jelinek hingegen macht sich
die Mehrfachbedeutung des Wortes »brennen« zunutze – eine von ihr viel-
fach angewendete Methodik – um traditionelle Ausdrucksweisen in Frage zu
stellen und gleichzeitig auf das eigentliche Thema ihres Texts aufmerksam zu
machen.
786 KDT, S. 482.
787 KDT, S. 132.
788 KDT, S. 133.
789 KDT, S. 15.
790 KDT, S. 18.
791 KDT, S. 168.
792 KDT, S. 427. 239
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319