Seite - 281 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 281 -
Text der Seite - 281 -
Dazu gehört in erster Linie der sensible Faschismusbegriff, der anhand der
wichtigsten Definitionen und Theorien der letzten Dekaden erläutert wurde,
wobei die grundsätzliche Feststellung getroffen wurde, dass ältere Theorien vor
allem monokausal orientiert waren bzw. einen Merkmalskatalog zu entwickeln
versuchten, welcher der Dynamik der realhistorischen Faschismen nicht gerecht
werden konnte. Definitionen der letzten beiden Dekaden versuchen, die ver-
schiedenen, zum Teil ambivalenten Wege des Faschismus zu vergleichen und
lenken dabei den Blick verstärkt auf dessen soziale und kulturelle Praktiken.
Tatsächlich ist der Faschismusbegriff damit (vor allem dank der regen angloa-
merikanischen Forschung) ein ganzes Stück flexibler geworden – er ist prozes-
sual ausgerichtet und will das Entwicklungspotential und die Wandelbarkeit
des faschistischen Phänomens erfassen. In Übereinstimmung mit dem Gros der
herangezogenen Autoren wurde der Nationalsozialismus als spezifische Form
(als »nationale Variante«) des Faschismus bezeichnet und ein kurzer Exkurs in
die aktuelle Nationalsozialismusforschung unternommen, die sich vor allem
durch einen grundlegenden Perspektivenwechsel auszeichnet : Demnach gelten
heute nicht mehr der Eroberungskrieg oder die Zerschlagung von Demokratie
und Sozialismus als Hauptmerkmale des NS-Regimes, sondern der »Zivilisa-
tionsbruch Auschwitz«4, dem im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen
Diskurs seit den 1980er Jahren wachsende Beachtung geschenkt wird. Heute
gilt der Holocaust, der Genozid an den europäischen Juden, als präzedenzloses
und zentrales Kernereignis des Nationalsozialismus. Die Frage nach den Ur-
sachen dieser großen menschlichen Katastrophe befördert auch das zeithisto-
rische Interesse für die »Einzelnen« und ihre Erfahrungen, Handlungen und
Handlungsspielräume.5 Hatten frühere Modelle das NS-Regime vor allem
als »Mobilisierungs- und Manipulationsprojekt«6 der politischen Eliten zu
beschreiben versucht, fokussieren neuere Ansätze verstärkt auf anthropologi-
sche Themen und versuchen (etwa anhand mikro- oder alltagsgeschichtlicher
Studien) konkrete »Lebenswelten«7 zu rekonstruieren, was die Wandelbarkeit
und Dynamik des deutsch-österreichischen Faschismus nachvollziehbar macht
und damit zur Differenzierung und Weiterentwicklung früherer Modelle bei-
trägt.
In einem weiteren Schritt wurde der für Jelineks poetisches Verfahren in
seiner Bedeutung kaum zu überschätzende »Mythos«-Begriff erläutert : Nach
Roland Barthes ist der Mythos eine Aussage, die unbewusste, kollektive Bedeu-
4 Diner, Zivilisationsbruch. Vgl. auch : Ders., Den Zivilisationsbruch erinnern.
5 Vgl. Burghartz, Historische Anthropologie, S. 206.
6 Kritisch dazu Bauer, Mobilisierung, S. 288.
7 Zu dem historischen Begriff der »Lebenswelt(en)« vgl. Kapitel 1.4.2 dieser Studie. 281
Zusammenfassung der Ergebnisse |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319