Seite - 293 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 293 -
Text der Seite - 293 -
An diese Idee knüpfte der amerikanische Literaturwissenschafter Stephen
Greenblatt mit seinem Modell des New Historicism an.42 Dieses gründet auf
der Auffassung, dass Geschichte von einer Vielzahl von Diskursen bestimmt
werde, die in der zeitgenössischen Literatur (sofern sie denn Kunst ist) zusam-
menlaufen und aufeinandertreffen.43 Die Besonderheit eines literarischen Tex-
tes bestehe demnach nicht mehr in seiner ästhetischen Einheitlichkeit, sondern
vor allem in seiner Fähigkeit, kulturelle Diskurse in ihrer Vielfältigkeit und bis-
weilen auch Widersprüchlichkeit aufzunehmen und darzustellen.44
Greenblatts These entwickle die Möglichkeit, Texte »in Zusammenhang oder
gar als Teil von Erinnerungskulturen zu denken«45, befindet die Literatur- und
Kulturwissenschafterin Sabina Becker. Die in diesem Sinne unterstellte histo-
rische Dimension von literarischen Texten kann mit den Erkenntnissen aus der
empirischen Analyse der vorliegenden Untersuchung argumentiert werden. Ge-
rade die starke Intertextualität von Jelinek-Texten, die bereits im theoretischen
Teil erläutert wurde, verweist auf deren großes Potential zur Widerspiegelung
und Brechung diskursiver Konstruktionen von Geschichte.
Der österreichische Opfermythos wird in der Literatur Elfriede Jelineks in all
seinen Grundfesten und Manövern zur Schau gestellt und destruiert. Aber auch
eindimensionale, monokausale Faschismus- und Nationalsozialismustheorien,
die im öffentlichen Diskurs, in populärwissenschaftlichen Büchern und Filmen
oder der Publizistik mitunter immer noch zur Erklärung des faschistischen
Phänomens herangezogen werden, obwohl sich die Geschichtswissenschaft
längst von ihnen distanziert hat (These vom Nationalcharakter, Führertheorie,
Nationalsozialismus als »Mobilisierungs- und Manipulationsprojekt«46 der
politischen Eliten etc.), werden durch die ästhetische Kraft der Jelinek’schen
Literatur verworfen.
Ja, nur in den Geschichten »sind Menschen zu erkennen« – doch die Ge-
schichte ist den Geschichten nicht »feindlich«47, wie der Schriftsteller Pe-
ter Bichsel 1982 noch behauptet hatte, denn auch die Geschichtswissenscha ft
schreibt heute viele Geschichten. Mit der Hinwendung zum Einzelnen kommt
42 Greenblatt entwickelte sein Modell im Rahmen einer detaillierten Shakespeare-Studie in
den frühen 1980er Jahren und präzisierte es in den Folgejahren. Vgl. Greenblatt, Renaissance
Self-Fashioning, sowie ders., Shakespearean Negotiations, sowie ders., Schmutzige Riten, sowie
ders., Kultur (New Historicism).
43 Vgl. Becker, New Historicism, S. 175.
44 Vgl. ebd., S. 178.
45 Ebd.
46 Kritisch dazu Bauer, Mobilisierung, S. 288.
47 Das ursprüngliche Zitat lautet : »Die Geschichte ist den Geschichten feindlich, und nur in den
Geschichten sind Menschen zu erkennen.« Bichsel, Der Leser, S. 20. 293
Interdisziplinäre Zusammenschau |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319