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Zum anderen erweist es sich als äußerst lohnend, die im Modell des New
Historicism beschriebene »Textualität von Geschichte«52 verstärkt in die
geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis einzubeziehen, denn nicht nur
Texte sind geschichtlich, sondern auch Geschichte ist textuell, da sie vor allem
über Texte darstellbar ist – nicht zuletzt über literarische Texte.53
Die Debatte um den so genannten »Linguistic Turn« sei am Ende doch nicht
sinnlos gewesen, meint der österreichische Zeithistoriker Ernst Hanisch, denn
sie habe die Historiker darauf aufmerksam gemacht, dass die Grenze zwischen
Fiktion und Ereignis kein »Eiserner Vorhang«54 sei : Schließlich seien es zu-
erst die Schriftsteller gewesen, die den allmächtigen, einseitigen Opfermythos
in Frage gestellt haben.55 Neben Schriftstellern wie Hans Lebert, Helmut
Qualtinger oder Thomas Bernhard konnten auch die wortgewaltigen Texte von
Elfriede Jelinek einen wichtigen Beitrag zur Erosion dieses wirkungsmächtigen
Geschichtsbildes der Zweiten Republik leisten.
Als Fazit der in dieser Studie angebotenen, interdisziplinär angelegten Deu-
tung dreier exemplarischer Jelinek-Texte soll daher an dieser Stelle ein klares
Plädoyer für eine intensivierte methodische Verschränkung der historischen und
philologischen Disziplinen ausgesprochen werden, denn diese wäre in jedem
Fall ein Gewinn – sowohl für die Geschichtswissenschaft, die mithilfe eines
gezielteren Instrumentariums den »Mehrwert« von Literatur noch mehr aus-
schöpfen könnte, als auch für die Germanistik, die bei der literaturwissenschaft-
lichen Analyse mitunter noch gewisse Unsicherheiten in puncto Kontextuie-
rung aufweist. Das größte Manko stellt dabei die mangelnde Kenntnis aktueller
historischer Diskurse dar.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mögen daher auch als Anregung für
die internationale Jelinek-Forschung dienen, jene Termini operandi, die aus
der Zeithistorie entlehnt sind, etwa den viel zitierten »Faschismus«-Begriff, in
Zukunft genauer zu definieren und achtsamer zu nutzen. Gleiches sei für den
Gebrauch historisch sensibler Begriffe geraten : So sollten Ausdrücke wie »An-
schluss«, »Drittes Reich«, »Halbjude/-jüdin« oder »Hitler-Deutschland« usw.
nicht oder jedenfalls nicht unkommentiert verwendet werden.56
52 Montrose, Poetik und Politik der Kultur, S. 67.
53 Vgl. Becker, New Historicism, S. 179.
54 Hanisch, Ein Historiker als Leser von Dichtung, S. 165.
55 Vgl. ebd., S. 168.
56 Es sei an dieser Stelle noch einmal auf das zweibändige »Wörterbuch der Vergangenheitsbe-
wältigung« von Thorsten Eitz und Georg Stötzel verwiesen, das auch Nicht-Historikern einen
raschen und fundierten Überblick über besonders problematische Ausdrücke vermittelt, siehe
Literaturverzeichnis. 295
Interdisziplinäre Zusammenschau |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319