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61Innovation
und Beharrung
In der Architektur des Bildes scheinen die poli-
tischen Vorlieben Siegmund Schneiders und seiner
Zeitung deutlich durch. Dass etwa Leopold Lipschütz,
der Chefredakteur der konservativen, der Reichspost
nahestehenden Illustrierten Kronen-Zeitung (links ne-
ben Benedikt, Nr. 21) alle anderen Vertreter um ei-
nen knappen Kopf überragt, ist gewiss kein Zufall:
Er verkörpert die erfolgreiche und auflagenstarke
konservativ-populistische Massenpresse. Dagegen ist
nur ein einziger Vertreter einer sozialdemokratischen
Zeitung abgebildet: Engelbert Pernersdorfer (Nr. 135).
Er gehört dem rechten, deutschnationalen Flügel der
Partei an und findet seinen Platz ganz außen im Bild,
dicht am rechten Rand. Der Chefredakteur der Arbei-
ter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, hingegen fehlt, eben-
so wie andere Journalisten fortschrittlicher Publikati-
onen. Auch Siegmund Schneider selbst, der Gestalter,
hat sich einen Platz gesichert. Er hat sich bescheiden
am rechten Bildrand, neben dem sozialdemokrati-
schen Vertreter, verewigt (Nr. 132).
Nicht nur die Anordnung der Porträtierten, auch
die Architektur und Gestaltung des Raumes folgen
einem präzise kalkulierten Programm. Nicht zufällig
wählt Schneider das Innere des Wiener Parlaments
als Schauplatz für sein Gruppenbild. Auch hier ar-
beitet er mit Schere und Klebstoff. Das Grillparzer-
denkmal, das hinter der festlich versammelten Pu-
blizistik zu sehen ist, steht in Wirklichkeit unweit
des Parlaments, im Wiener Volksgarten. Grillparzer
wird in der Beschreibung des Bildes, die ebenfalls
von Schneider stammt, als „größter österreichischer
Dichter und Schriftsteller“ vorgestellt und zugleich
als „berühmtestes Opfer vormärzlicher Preßverhält-
nisse und Metternichschen Geistesdrucks.“6 Schnei-
der baut weitere figurative „Zutaten“ in die Szene ein.
Rechts und links des Dichters sind die Statuen der
Clio und der Urania zu sehen, die antiken Musen der
Dichtung und der Naturwissenschaft. Am äußeren
Bildrand rechts und links sitzen weitere antike Hel-
den, Cicero und Demosthenes, deren Statuen im Ka-
pitolinischen Museum in Rom und im Pariser Louvre
stehen. Und auch die Fresken am Fries der Säulen-
halle hat Schneider von weit hergeholt und ins Bild
montiert. Sie zeigen „altchristliche Blutzeugen des
freien Wortes“, die Gemälde stammen aus der Basili- ka San Lorenzo in Rom. Schneider fasst die Aussage
des bedeutungsschwangeren Bildes folgendermaßen
zusammen: „So entströmt dieser Photocomposition
auch eine ungewöhnliche symbolische Kraft, die sie
wohl zu mehr macht als zu einem bloß zufälligen
Gruppenbilde und dadurch auch manchen sinnenden
Beschauer anregen mag zu ernsteren Betrachtungen,
was unsere Zeit, was unser ganzes Kultur- und Geis-
tesleben in Österreich den Männern der vaterländi-
schen Publizistik zu verdanken hat.“7
Innovation und Beharrung
Die Fotomontage Siegmund Schneiders ist ein in-
teressantes Beispiel für die komplexen rhetorischen
Möglichkeiten, mit denen fotografisch illustrierte Zei-
tungen bereits in den ersten Jahren nach 1900 arbei-
ten. Und dennoch ist dieses Beispiel eine Ausnahme.
Derart aufwendig gestaltete und gedruckte Bildseiten
sind in diesen Jahren eher selten. Die Fotografie, die
im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts allmäh-
lich Einzug in die illustrierte Wochenpresse hält, ist
zwar als Medium neu, aber die Bildsprache, in der
sie sich bewegt, greift noch lange auf die etablierten Abb. 2 „Der Herausgeber
der
Neuen Freien Presse. 20.
Juni
1911“.
Fotomontage von Karl
Kraus, in: Die Fackel,
Nr.
326
–
328,
8.
Juli
1911.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang