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102 Als die Männer fliegen lernten · Die ersten Wiener Flugschauen
nieren in der Öffentlichkeit bei Weitem die Berichte
über Erfolge, gebrochene Rekorde und erreichte Ziele.
Gelegentlich aber kommt auch die andere Seite der
Fliegerei zur Sprache. Je mehr Flugzeuge aufsteigen
und je stärker sich die Flugmeetings in Richtung
einer auf das Publikum hin entworfenen riskanten
Flugakrobatik entwickeln, desto häufiger werden die
Unfälle.
Ein besonders spektakulärer Absturz passiert am
Ostersonntag des Jahres 1914 auf dem Flugfeld von
Aspern vor Tausenden von Zuschauern. Die beiden
französischen Aviatiker Alfred Lemoine und Jean
Bourhis setzen an diesem Tag zu einer gewagten Dar-
bietung an. Sie haben vor, in dem von Lemoine ge- lenkten Flugzeug mehrere Hundert Meter aufzustei-
gen. Dann sollte Bourhis aussteigen und mit seinem
Fallschirm in die Tiefe springen. Eine solche Übung
hat vor ihnen in Wien noch niemand vollbracht. Bour-
his ist ein Pionier auf diesem Gebiet. 1911 hatte er
mit ersten Fallschirmversuchen begonnen, im August
1913 war er zum ersten Mal aus einem fliegenden
Flugzeug gesprungen. Seither tourt er durch Europa,
um sein Kunststück vor Publikum zu präsentieren.
Kurz vor dem Start posieren die beiden Flieger
noch vor ihrer Deperdussin-Maschine (Abb. 11). Sie
genießen es sichtlich, die Stars des Tages zu sein.
Gleich werden sie ihre ledernen Fliegerkappen auf-
setzen, mit dem Flugzeug auf das Feld rollen und
starten. Als die beiden eine Höhe von 500 Metern
erreicht haben, will Bourhis wie geplant abspringen.
Während des Ausstiegs jedoch passiert etwas Unvor-
hergesehenes: Der Fallschirm verfängt sich in den
Verspannungsschnüren des Flugzeugs und kollidiert
mit dem Höhensteuer. Der Pilot ist gezwungen, im
steilen Sturzflug abzusteigen. Während dieses Manö-
vers fällt er, so berichten Augenzeugen und Presse,
aus dem Flugzeug und stürzt ungebremst auf das
Flugfeld, wo er schwer verletzt liegen bleibt. Bourhis
gelingt es zwar im letzten Moment, den Fallschirm
vom Flugzeug zu lösen. Allerdings lässt sich dieser
nicht mehr zur Gänze öffnen. Dennoch landet der
Fallschirmspringer wie durch ein Wunder nur leicht
verletzt am Boden.30
Der Absturz der beiden Flieger schockiert das Pu-
blikum. Und zugleich sind die Schaulustigen von der
dramatischen Wendung der Ereignisse fasziniert. Mit
einem Schlag sind aus den kühnen Heroen der Luft
zerbrechliche Existenzen geworden. Während der
folgenden Tage berichtet die Presse ausführlich über
den genauen Hergang des Unfalls. Das interessante
Blatt bringt am 23. April 1914 eine bemerkenswer-
te Fotoreportage zum Vorfall, die die dramatischen
Augenblicke zwischen Start und Absturz einfängt
(Abb. 12). Drei dicht aneinandergefügte Bilder rei-
chen für die spannende Bilderzählung aus. Die erste
Aufnahme zeigt die beiden Flieger im Cockpit ihres
Flugzeuges wenige Augenblicke vor dem Start. Vor-
ne sitzt Lemoine, der Pilot, hinter ihm Bourhis, den
Fallschirm trägt er auf dem Rücken. Im zweiten Bild
Abb. 11 Die beiden französi-
schen Piloten Alfred Lemoine
und Jean
Bourhis kurz vor
dem Start in Wien-Aspern,
April 1914. Im Hintergrund
die Deperdussin-Maschine.
Bourhis sollte von mehreren
Hundert Metern Höhe
mit dem
Fallschirm abspringen.
Wiener
Bilder, 19.
April 1914, Titelseite.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang