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206 Erzählende Bilder · Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit
Der Einsatz neuer Apparate ist freilich bei genau-
erer Betrachtung nur einer von vielen Faktoren (und
gewiss nicht der wichtigste), die hinter den gestal-
terischen Umbrüchen in der illustrierten Presse um
1930 stehen. Wichtiger ist beispielsweise der Einfluss
des modernen Films, der in den 1920er Jahren große
Schritte in Richtung innovativer Bilderzählungen
macht. Vor allem die Regisseure der Avantgarde, die
mit Großaufnahmen und atemberaubenden Monta-
gefolgen arbeiten, geben der fotografischen Bildge-
schichte wichtige Impulse. Das gilt insbesondere für
den innovativen Reportagefilm deutscher und sowje-
tischer Herkunft.
Die filmische Reportage zeichnet sich darüber hi-
naus durch die künstlerisch gestaltete Hinwendung
zur alltäglichen Wirklichkeit aus. „Die Reportage“,
schreibt der österreichische Fotograf Kurt Husnik
1933 in seinem von Béla Balász inspirierten Beitrag
„Das Kinoauge als Reporter“, „nimmt als Film eine
Sonderstellung ein, da sie keine Fabel oder eine zu-
sammenhängende Begebenheit schildert, sondern
nur das Ding an sich, losgelöst von seiner Umwelt.
Der Reportagefilm sucht nicht in der Begebenheit,
sondern nur in der Erscheinung seinen Stoff. Sein
Ausdrucksmittel ist die rein optische Sprache des
Films, und hat der Künstler die Möglichkeit, die Ka-
mera nicht bloß zu illustrieren, sondern selbst dich-
ten zu lassen.“9 Er weist darauf hin, dass die moderne
Reportage im Film wie in der Fotografie die Dinge
des Alltags in ein neues Licht rückt, dass sie dazu
beiträgt, unsere nächste Umgebung auf neue Wei-
se zu betrachten: „Die Gabe der Beobachtung führt
dazu, die Sprache selbst der unscheinbarsten Dinge
zu verstehen und im Photo und (im) Film haben wir
das Resultat vor uns: die Reportage der unbekannten
Nähe unserer Umwelt.“10
Neben dem Film spielt für die Fotoreportage neu-
en Stils der Text eine große Rolle. Er verabschiedet
sich immer öfter von der alten informierenden, oft
belehrenden Zeitungsprosa, der die Einzelbilder bloß
kommentiert und einordnet. Stattdessen wird er er-
zählender und feuilletonistischer. Er hat die Aufgabe,
die Bilder zu Geschichten zu verbinden und diese mit
einer Dramaturgie zu versehen. Immer öfter schrei-
ben nun auch bekannte Feuilletonautoren Beiträge zu Fotoreportagen. Ein Beispiel von vielen ist Karl
Tschuppik, geb. 1876 in Böhmen, der in der Zwi-
schenkriegszeit in Berlin und Wien lebt. Er schreibt
Anfang der 1930er Jahre einige gute Bildgeschichten
zu Österreich-Fotoreportagen, die Felix H. Man im
Auftrag der deutschen Fotoagentur Dephot zusam-
menstellt und die in der Münchner Illustrierten Presse
veröffentlicht werden .11 Neu ist, dass in den 1930er
Jahren vermehrt auch Frauen die Texte zu den Fo-
toreportagen schreiben: in den Wiener Bildern etwa
Etta Donner, Marianne Feigl, Marianne Heimler und
Hilde Leitner, im Wiener Magazin Rosa Wachtel und
im Sonntag Gusti Skall.12
Ende der 1920er Jahre führen auch ökonomische
Umbrüche auf dem Markt der illustrierten Presse zu
einer Neuausrichtung der Bildberichterstattung.13
Ab Mitte der 1920er Jahre kommt es zu einem Aufla-
genboom und zugleich zu einem erbitterten Wettbe-
werb auf dem Pressemarkt. Neben den klassischen
Wochenillustrierten bieten nun auch einige illust-
rierte Wochenendbeilagen von Tageszeitungen, vor
allem aber die neu gegründeten, meist monatlich
erscheinenden Gesellschafts- und Kulturmagazine
Bildgeschichten an. Zudem drängen in den 1920er
Jahren zunehmend professionell gestaltete deutsche
Illustrierte nach Österreich. Die führenden Wochenil-
lustrierten Das interessante Blatt und die Wiener Bil-
der beginnen angesichts dieses Drucks ebenfalls ihre
Gestaltung allmählich zu verbessern und aufwendi-
ger konzipierte Bildgeschichten in Auftrag zu geben.
Die moderne Fotoreportage, die in den Augen
der Fotopioniere 1929 fast wie vom Himmel zu
fallen scheint14, ist also in Wirklichkeit das Ergeb-
nis komplexer Veränderungen im Mediensektor.
Sie ist ein Produkt vielschichtiger Einflüsse und
Wechselwirkungen. Die wichtigsten Anregungen
für die österreichische Fotoreportage kommen aus
Deutschland, wo bereits etwas früher, ab 1928/29,
neue Formen der Bilderzählung entwickelt werden.
Zeitungen wie die Münchner Illustrierte Presse und
das Frankfurter Illustrierte Blatt, experimentieren
schon 1928 mit der Fotoreportage neuen Stils.15 In-
novative Fotoagenturen wie Weltrundschau (1927
gegründet), Dephot (1928 gegründet) oder Mauriti-
us (1929 gegründet) bieten neben Einzelbildern nun
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang