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210 Erzählende Bilder · Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit
Die Veränderungen und Umschichtungen in der
Bildpresse nach dem Ersten Weltkrieg haben auch
Auswirkungen auf die Arbeitsweise der Fotografen.
Um 1930 kommt es innerhalb der Bildjournalisten zu
einer personellen Erneuerung und zu einer inhalt-
lichen und ästhetischen Neuausrichtung. Die Jahre
der Nachkriegszeit, die von Kontinuität und ästhe-
tischem Beharren gekennzeichnet sind, gehen nun
ihrem Ende entgegen.27 Die Generation von Pressefo-
tografen, die unmittelbar nach dem Krieg tätig waren,
wird nun allmählich abgelöst. Viele von ihnen haben
schon vor 1914 oder während des Krieges als Kriegs-
fotografen gearbeitet. Zu ihnen zählen Carl Seebald,
Heinrich Schuhmann sen., Heinrich Schuhmann jun.,
Charles Scolik jun. und Josef Perscheid. Sie arbeiten
in den Jahren nach 1918 weiter. Allerdings tauchen
nun auch jüngere Fotografen auf, die ihre Karriere
erst nach dem Krieg beginnen, etwa Richard Hauffe,
Hugo Oppolzer, Leo Ernst, Fred Cesˇanek, Albert Hil-
scher, Karl Schleich und der Sportfotograf Lothar Rü-
belt, der ab Ende der 1920er Jahre immer öfter auch
tagespolitische Ereignisse dokumentiert.
Ab Mitte der 1920er Jahre tritt eine neue Gene-
ration von Fotografen an, die teilweise anders arbei-
ten als ihre älteren Kollegen. Neben Einzelbildern
liefern sie immer wieder auch Reportagen. Zu ih-
nen gehören – neben Lothar Rübelt – Max Fenichel,
Steffi Schaffelhofer, Hans Casparius, Karl Schleich,
Lena Schur, Ernst Kleinberg, Walter Henisch. Edith
Suschitzky, Hans Roth, Karl Schöpl, Marianne Ber-
gler und Annie Schulz. Auch Otto Skall, der, 1884
geboren, seine Tätigkeit als Pressefotograf um 1925
aufnimmt, liefert außer Theateraufnahmen sehr gute
Fotoreportagen. Nicht alle Reportagefotografen der
Zwischenkriegszeit sind professionelle Pressefotogra-
fen, einige, etwa Frank Sykora, Hans Roth oder Ernst
Kassowitz, sind Amateure und fotografieren nur ge-
legentlich für die Zeitung. Auch Hans Ewald Heller,
ab 1932 Chefredakteur der Wiener Bilder, fotografiert
nur nebenbei. Er ist ein Verfechter der modernen Re-
portage und liefert selbst immer wieder gute Fotore-
portagen zu Alltagsthemen. Wieder andere, wie etwa
Herbert Tichy, Harald Lechenperg oder Alice Schalek,
geb. 1874, spezialisieren sich ab Mitte der 1930er Jah-
re auf Reisereportagen aus fernen Ländern. Die gelungensten Fotoreportagen dieser Jahre
haben nicht große politische Ereignisse oder die Ta-
gespolitik zum Thema, sondern stellen mehr oder we-
niger aktuelle Alltagsthemen auf neue, überraschen-
de Weise in Bildergeschichten vor. Lena Schur etwa
berichtet über die ersten Minuten im Leben eines Ba-
bys, Max Fenichel über ein Wiener Gefängnis, Hans
Roth über den Besuch im Wachsfigurenkabinett, Steffi
Schaffelhofer über Frauen hinter Klostermauern,
Frank Sykora über Bettler in Wien, Annie Schulz über
den Alltag im Wiener Fundamt und zusammen mit
Marianne Blumberger (verh. Bergler) über die Fas-
zination der Puppen oder über Frauenhände, Robert
Haas über Kinderarmut in der Vorstadt.
Die Fotoreportage setzt sich durch
Wichtige Impulse für die Entwicklung der Foto-
reportage gehen um 1930 von Magazinen wie der
Bühne oder dem Wiener Magazin und nach 1934 vom
Sonntag, der wöchentlichen Beilage zur Tageszeitung
Der Wiener Tag, aus.28 Diese Medien experimentieren
regelmäßig mit erzählerischen Formen der Fotografie.
Im August 1929 erscheint beispielsweise in der Bühne
eine Bildseite von Karl Schleich zum Motorradren-
nen in der Wiener Krieau.29 Bei diesem Prototyp ei-
ner modernen Reportage ist der Text bereits fast ganz
zurückgedrängt. Eine Überblicksaufnahme verschafft
eine erste Orientierung, Augenblicksbilder und he-
rausgezoomte Großaufnahmen der Sieger führen in
das Thema hinein. Grafisch sehr viel einfacher um-
gesetzt ist eine Fotoreportage von Annie Schulz über
den Wiener Naschmarkt, die im November 1930 auf
einer Doppelseite der Bühne erscheint (Abb.
10). Die
kurze, recht statisch gestaltete Bildgeschichte hebt
sich deutlich vom informierenden Gebrauch der Foto-
grafie ab. Sie will die Alltagsstimmung einfangen und
die Atmosphäre des Marktgeschehens vermitteln.
Auch Zeitschriftenneugründungen wie etwa der
seit 1929 in Innsbruck erscheinende Welt-Guck setzen
schon früh auf die Fotoreportage als moderne Erzähl-
form. Bereits kurz nach der Gründung erscheinen in
dieser Zeitung die ersten Fotoreportagen. Zunächst
sind es noch Bildgeschichten, die aus Bildern unter-
schiedlicher Fotografen zusammengesetzt sind.30 Ab
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang