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223Steyr,
die sterbende Stadt
ten, scheinbar intakten ländlichen Gemeinschaften
suchen. Das Phänomen Gallspach wäre also, wenn
wir Morgensterns Interpretation folgen wollen, auch
eine Chiffre für die Stimmung im ganzen Land.
Die Industriestadt Steyr, ebenfalls in Oberöster-
reich gelegen, ist in vielfacher Hinsicht geradezu ein
Gegenentwurf zu Gallspach. Auch sie wird Anfang
der 1930er Jahre in mehreren illustrierten Zeitungen
porträtiert, freilich nicht als Fluchtpunkt Heilung
suchender Städter, sondern vielmehr als Inbegriff
der gescheiterten Stadt. Auch hier bietet sich an, die
Reportagen einander gegenüberzustellen, um Auf-
schluss über Bauart und Erzählhaltung zu gewinnen.
Am 5. Januar 1930 bringt der sozialdemokratische
Kuckuck unter dem Titel „Steyr, die Stadt der Arbeits-
losen“ die erste Fotoreportage über den krisenge-
schüttelten Ort.49 Seit einigen Monaten, so berichtet
das Blatt, werden Arbeiter der Steyrwerke, dem wich-
tigsten Unternehmen der kleinen Stadt, entlassen. Während des Ersten Weltkrieges hatte der Betrieb
als Rüstungsfirma Hochkonjunktur. Danach stelle
man auf die zivile Automobilproduktion um. Und nun
macht sich die Weltwirtschaftskrise bemerkbar. Die
Anzahl der Beschäftigten schrumpft Woche für Woche.
„Ein Viertel der Bevölkerung“, so heißt es im Kuckuck,
„ist jetzt arbeitslos – etwa 6000 von 24 000 Einwoh-
nern. Es gibt nahezu keine Familie, die von dem Mas-
senelend nicht betroffen wäre, in manchen Familien
sind alle erwerbenden Mitglieder arbeitslos.“50
Ein Jahr später – die wirtschaftliche Situation Steyrs
hat sich weiter verschlechtert – greift die Münchner
Illustrierte Presse das Thema in einer Reportage auf
(Abb.
22).51 Nun ist aus der Stadt der Arbeitslosen
im Titel bereits eine „sterbende Stadt“ geworden. Die
Aufnahmen stammen von Felix H. Man (eigentlich
Hans Felix Baumann), der seit Juni 1929 für die Ber-
liner Fotoagentur Dephot tätig ist.52 Den Text steu-
ert der Wiener Journalist Karl Tschuppik bei. Beide Abb.
22 „Steyr, die sterbende
Stadt“.
Fotoreportage von Karl
Tschuppik (Text) und
Felix H.
Man (Fotos) über die
krisenge-
schüttelte
oberösterreichische
Industriestadt. Münchner
Illustrierte Presse, 31.
Januar
1931,
S.
100/101.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang