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292 Experiment und Bewegung · Tanzschritte in eine neue Zeit
Mimik und Tanz an der Akademie für Musik und Dar-
stellende Kunst, 1922 eröffnet sie eine eigene Schule
und ist in den folgenden Jahren auf Tournee in ganz
Europa unterwegs. Sie gehört zu den wenigen Tän-
zerinnen, die neben ihrer Arbeit auf der Bühne auch
eine beeindruckende publizistische Selbsteinschät-
zung geliefert hat. Bereits zu Beginn ihres Erfolges
blickt sie auf ihre noch kurze, aber steile Karriere
zurück. In einem Beitrag für die Zeitschrift Moderne
Welt benennt sie im Frühjahr 1922 Vorbilder, Künst-
lerfreunde und konkrete ästhetische Bezugspunkte
ihrer Kunst: „Ich tanzte nach der Musik von Korngold
und Debussy, von Scriabine und Scott und versuchte,
ihre erregenden Rhythmen, ihre tief aufwühlenden
Dissonanzen oder ihre groteske Komik in meinen Be-
wegungen wiederzugeben. Wenn es die Musik war,
von der ich meine entscheidenden Anregungen er-
hielt, so war es die Malerei nicht minder, und Maler
waren es auch, die meine ersten Schritte in die Öf-
fentlichkeit leiteten. Vor allem Franz von Bayros, der
große, fein fühlende Künstler, der mir nicht allein nur
dadurch half, dass er mir in der verstehendsten Wei-
se ergänzende Gewänder zu meinen Tänzen schuf,
sondern mir auch immer Mut zusprach, meine Ideen
ohne Zugeständnisse und Kompromisse zu verwirk-
lichen. Als ich meine Kostüme fertig hatte, führte ich
meine Tänze einem Kreis junger Maler, die sich unter
dem Namen ‚Neue Vereinigung‘ zu einer Gruppe zu-
sammengeschlossen hatten, vor. Sie fühlten, wie sie
selbst sagten, Verwandtes in meiner Art zu tanzen heraus und luden mich ein, meinen ersten Wiener
Tanzabend im Frühling 1919 in ihrer neueröffneten
Ausstellung abzuhalten. Das war mein selbständiges
Debüt in Wien und der eigentliche Beginn meiner
Laufbahn. Und so wurde ich, als was ich mit einem
vielumstrittenen, vielmißbrauchten Wort bezeichnet
zu werden pflege: eine expressionistische Tänze-
rin.“14 Einige Jahre später, Bodenwieser ist internatio-
nal längst etabliert, meint sie: „Kampf, Leidenschaft,
dionysisch gesteigertes Lebensgefühl, aber auch Chaos,
Grauen und Entartung möchte ich in den Tänzen
ohne Rücksicht auf die ästhetische Linie, vielleicht
gerade darum mit umso packenderer Wucht, gebracht
sehen. (…) So trachte ich, die Tanzkunst in engsten
Zusammenhang zu bringen mit der großen geistigen
Strömung unserer Epoche, dem Expressionismus, zu
dem ich mich durchaus bekenne.“15 (Abb.
9)
Gertrud Bodenwieser ist in den 1920er und 1930er
Jahren die wohl bekannteste Vertreterin des neuen
Tanzes in Wien. Neben ihr und Grete Wiesenthal gibt
aber zahlreiche andere wichtige Protagonistinnen des
modernen Tanzes. Viele der Bodenwieser-Schülerin-
nen, unter anderem Grete Groß (Abb.
10), Gertrud
Kraus, Hilde Holger, Gisa Geert, Lisl Rinaldini, Trudl
Dubsky, Erika Hanka und Cilli Wang, machen eben-
falls Karriere und gründen teilweise eigene Schulen
und Ausbildungsinstitute.16 In den 1920er Jahren
entsteht auf diese Weise in Wien ein weitverzweigtes
Laboratorium für experimentelle Bewegung. Wäh-
rend ein Teil der Tänzerinnen sich eindeutig in die
Tradition des Expressionismus stellt, folgen andere
Bewegungskünstlerinnen anderen Richtungen. Rosa-
lia Chladek etwa, geb. 1905 in Brünn, absolviert ihre
Ausbildung in der Tanzgruppe Hellerau-Laxenburg,
deren Ursprünge auf die Lebensreformbewegung zu-
rückgehen.17 In den 1930er Jahren übernimmt sie die
Leitung der Tanzschule in Laxenburg. Aus einer ähn-
lichen Tradition kommt der Lehrer und Choreograf
Rudolf Laban, der regelmäßig in Wien zu Gast ist. Be-
kannt ist auch die russische Tänzerin Ellen Tels, die
bereits vor dem Ersten Weltkrieg Gastspiele in Wien
gibt und dort 1920 eine innovative Tanzschule grün-
det. Zu ihrem Ensemble gehört die legendäre Tänze-
rin Mila Cirul.18 Ende der 1920er Jahre öffnen sich
allmählich auch die staatlichen Institutionen dem
Abb.
8 Die kurdische Tänzerin
Leila Bederkhan, bekannt
für
ihre orientalischen und
expressiven Tänze, tritt in den
1920er Jahren regelmäßig in
Wien auf. Wiener Mode, Heft
18, September 1924, S.
14.
Foto: Max
Tanner.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang