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299Blütezeit
der Nacktkultur
Eine Woche nach ihrem kurzen Wiener Auftritt re-
sümiert ein Wiener Journalist: „Schon das Entree der
Mulattin Josephine Baker wirkt faszinierend, sie um-
schleicht, um den Gürtel künstliche Bananen tragend,
im Urwald lauernd, einen weißen Afrikareisenden.
Ihr knabenhafter Körper zeigt klassische Formen,
dazu das weiße Leuchten ihrer Zähne, kohlschwarze
Augen mit Pupillen, die sich weit nach rechts oder
links schieben, so daß man nur das Weiße sieht. Bald
ist die Wildkatze dann wieder ein sanftes oder über-
mütiges Kind, kurz gesagt, ein Original, ein Ereignis
auf der Bühne. Wenn sie mit ihrer dünnen Stimme
singt, den Gesang der Tiere nachahmt, oder grotesk
tanzt, wobei jeder Muskel des ganzen Körpers nach
Art der Bauchtänzerinnen mitarbeitet, folgt man je-
der ihrer Bewegungen mit gespanntem Interesse.“8
Blütezeit
der Nacktkultur
Josephine Baker ist in den 1920er Jahren eine Art
Kunstfigur, eine Projektionsfläche, die Faszination
und Ablehnung gleichermaßen bündelt. Sie wird be-
wundert und gefeiert, aber auch kritisiert und ver-
achtet. Ihr entblößter Körper ist auf der Bühne und
in der illustrierten Presse die Attraktion, zugleich
aber auch Anlass für Skandale. Wenige Jahre nach
dem Ende des Ersten Weltkriegs ist der Nackttanz
in den europäischen Metropolen zur großen Mode
geworden. Bilder entblößter Tänzerinnen halten in
diesen Jahren mit einer Selbstverständlichkeit Ein-
zug in die illustrierten Journale, wie sie zuvor nicht
denkbar gewesen wäre. Wenn vor 1914 der entblößte
weibliche Körper in der Öffentlichkeit gezeigt wurde,
hatte man stets Vorkehrungen getroffen, um den zu
erwartenden Vorwurf der Unsittlichkeit zu entkräften
und die Zensur zu umgehen. Gelegentlich bemühte
man einen künstlerischen Jargon. Nacktszenen auf
der Bühne wurden beispielsweise in Form von „Tab-
leaux vivants“ gezeigt, die oft (zumindest angeblich)
nach Vorbildern in der Malerei arrangiert waren.
Oder die Entblößung fand unter dem Deckmantel
des künstlerischen Tanzes statt. In der illustrierten
Presse erschienen Nacktbilder nur dann, wenn sie
mit einem Kommentar der moralischen Empörung
versehen waren. Als 1913 die französische Nackt- tänzerin Adorée Villany im Zirkus Busch im Wiener
Prater auftrat, erschien ein freizügiges Foto in der
Presse (Abb.
4), begleitet von einem distanzierenden
Kommentar, in dem die „wilden, orgiastischen Tänze“
beanstandet wurden.9
All das ändert sich nach 1918. Die Erschütterun-
gen des Krieges haben die moralischen Grenzen
verschoben. Die Nacktkultur verlässt nun die engen Abb.
4 Die französische
Nackttänzerin Adorée Villany
tritt 1913 im Zirkus Busch im
Wiener Prater auf. Das interes-
sante Blatt, 10.
Juli 1913, S.
18.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang