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303Ein
neues Korsett der „Sittlichkeit“ Abb.
8 „Die weltumspannende
Macht des Weibes“. Die Mus-
kete, Nr.
6,
1932, S.
102. Foto:
Atelier Manassé.
auch die offene Zensur verdrängen die Nacktheit aus
der Öffentlichkeit. Josephine Bakers Wiener Auftritt
im Jahr 1928 markiert diesen Wendepunkt beson-
ders eindrücklich. Die Nacktfotografie verschwindet
allerdings nicht vollständig aus der Öffentlichkeit. Sie
sinkt nun wieder langsam zurück ins Schmuddelige,
ins Reich der anzüglichen Publizistik. Diese ist in
Wien vor allem mit einem Namen verknüpft: Karl
Rob (eigentlich Robitschek).
Rob gründet während des Ersten Weltkriegs einen
eigenen Verlag.19 Daraus entsteht in den 1920er und
1930er Jahren ein erfolgreiches Medienunternehmen,
in dem die Nacktfotografie eine wichtige Rolle spielt.
Vor allem in den populären Revuen Die Muskete und
Der Faun, teilweise auch in der Zeitschrift MOCCA,
wird den Lesern ein schlüpfriges und frivoles Pro-
gramm geboten.20 Auf vielen Fotoseiten der Muskete
dominieren pikant-voyeuristische Inszenierungen, of-
fen pornografische Bilder dagegen finden sich selten.
Dennoch wird die Zeitschrift immer wieder aus „Sitt-
lichkeitsgründen“ zensiert und beschlagnahmt. Zahl-
reiche Fotografen beliefern den Verlag mit erotischen
und anzüglichen Motiven. Ein Wiener Fotografenduo
sticht darunter besonders hervor: Olga und Adorján
Wlassics, die seit 1924 gemeinsam das Atelier Manassé
betreiben. Sie liefern bei Weitem die meisten Nackt-
aufnahmen für die Rob-Presse. Woche für Woche
sind sie mit Sujets nackter Frauen präsent. Manch-
mal handelt es sich um Posen und Inszenierungen,
die mit der Tradition künstlerischer Akte kokettieren.
Öfter aber sind die Nacktaufnahmen symbolisch auf-
geladene Genreszenen, die mehr oder weniger in der
Nähe des Kitsch liegen (Abb.
8). Wieder andere Bilder
aus dem Atelier Manassé gehören in den Bereich der
anspruchslosen Massenware, die die schlüpfrigen
Motive mit billigen Effekten anreichern.
Die Zurückdrängung der Nacktkultur nach 1930
erfolgt schleichend. Während des „Ständestaates“
häufen sich die Beschlagnahmungen von Heften aus
dem Rob-Verlag.21 Im katholischen und konservati-
ven Österreich der 1930er Jahren verschiebt sich die
Schamgrenze sehr deutlich. Die staatlich verordnete
Prüderie nimmt zu. In dieser Stimmung ziehen sich
die liberalen, offenen, neugierigen Fotografen und Fo-
tografinnen zunehmend auf sicheres Terrain zurück. Die Nacktbilder verschwinden zunehmend aus der
Öffentlichkeit.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten
im Jahr 1938 wird dieser restriktive Kurs gegenüber
der öffentlichen Entblößung zunächst weitergeführt.
Die offiziell verordnete Keuschheit ist freilich nur
von kurzer Dauer. Denn schon 1939 tauchen neue
Nackte auf: Erdverbundene, sportliche und vor allem
„urdeutsche“ Grazien sind nun wieder hüllenlos zu
sehen.22
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang