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396 Fotografisches Feuilleton · „Der Sonntag“: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie
bei der Arbeit beobachtet wird (Abb.
13,
14). Das Foto
ist von schräg oben aufgenommen. Der Kopf der Fo-
tografin rückt an den oberen Rand, das Fotomodell
liegt ausgestreckt und scheinbar ein wenig kopfüber
auf einem weißen Laken. Auch im Innenteil, wo die
Reportage fortgesetzt wird, werfen wir einen Blick
hinter die Kulissen der Modeaufnahmen. Wir sehen
das Modell in immer neuen Posen und Kleidern. Um-
geben ist die junge Frau von hell leuchtenden Schein- werfern, die bizarre Schatten werfen. Und immer wie-
der schiebt sich die Kamera ins Bild. Auch der Text,
er stammt von Gusti Skall (G. W. = Gustav Wiesinger),
macht zunächst einen augenzwinkernden Ausflug in
die Kulturgeschichte, um schließlich bei den Modebil-
dern anzukommen.
Bisher hat Trude Fleischmann fast ausschließlich
im Atelier gearbeitet. Nun, Mitte der 1930er Jahre,
wendet sie sich plötzlich – neben ihrer Studiofotogra-
fie – ganz neuen Themen zu. Die Anregung zu dieser
Neuorientierung kommt sicher von Hans Oplatka. Er
lädt die Fotografin 1936 ein, für den Sonntag Reporta-
gen zu sozialen und gesellschaftlichen Themen zu ge-
stalten. Das bedeutet für sie, das Atelier zu verlassen
und mit ihrer Rolleiflex im Freien zu fotografieren.44
Anfang August 1936, eine Woche nach ihrer Reporta-
ge über die Modefotografie, erscheint im Sonntag eine
Seite zum Thema „Zigeuner – zivilisiert“, in der sämt-
liche Vorurteile gegenüber der Minderheit bedient
werden. Die Fotos stammen von Trude Fleischmann,
sie hält mit ihrer Kamera eine „Handleserin“ und eine
„Zigeunermutter“ fest (Abb.
15). Ab jetzt fotografiert
Fleischmann regelmäßig für den Sonntag. Neben Port-
räts und Reisebildern (u. a. aus Italien, dem Lieblings-
reiseziel auch von Oplatka) steuert sie nun auch öfter
Reportagen bei. Ende Oktober 1937 etwa erscheint
unter dem Titel „Die steinige Heimat“ eine Sozialre-
portage Fleischmanns über das harte Leben in einem
österreichischen Steinbruch.45 Auch hier stammt der
Text von Gusti Skall, alias Gustav Wiesinger.
Wenige Monate nach Fleischmanns Debüt im Sonn-
tag wird ein weiterer junger Lichtbilder fester Mitar-
beiter der Zeitschrift: Robert Haas. Haas ist einer der
besten und interessantesten Fotografen des Blattes.
Seine erste große Reportage „Ein Garten im Lande der
Armen“ über einen Kindergarten im Wiener Arbeiter-
bezirk Simmering erscheint im Februar 1937. Mögli-
cherweise kommt er über Trude Fleischmann bzw.
Otto Skall mit Oplatka in Kontakt. Fleischmann und
Skall sind seit Langem eng miteinander befreundet
und Haas lernt Skall Anfang der 1930er Jahre über
Fleischmann kennen. Denkbar ist aber auch, dass
Oplatka Haas über die Zeitschrift Die Bühne kennen-
gelernt hat, die im gleichen Verlag erscheint und in
der Haas 1935 seine ersten Reportagen unterbringt.
Abb.
13, 14 Fotoreportage
über die
Modefotografie. Der
Sonntag, 2.
August 1936, Titel-
seite, S.
4
und 5. Text:
Gustav
Wiesinger
(d.
i. Gusti Skall),
Fotos: Trude Fleischmann.
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Untertitel
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Autor
- Anton Holzer
- Verlag
- Primus Verlag
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Abmessungen
- 23.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 498
- Schlagwörter
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Kategorie
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang