Seite - 210 - in Bauhaus in Wien? - Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer

„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 210 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier Wie der Bauhausforscher Rainer Wick treffend analysiert hat, besteht bei der von Hoff- mann und Moser gegründeten Wiener Werkstätte und beim Bauhaus Übereinstimmung hinsichtlich der Forderung nach funktional gestalteten Gebrauchsgegenständen, die, so Wick, „[...] einen oft rigorosen formalen Reduktionismus auf geometrische bzw. stereo- metrische Grundformen, insbesondere auf Kubus, Kugel und Zylinder“106 bedeutete. Um 1900 finden sich in Wien ebenso rechtwinklige, geradlinige und auf Grundformen basierende Möbel, wie sie auch charakteristisch für das Bauhaus sind. Insbesondere lassen sich zwischen den Entwürfen der Ateliergemeinschaft und Möbeln von Josef Hoffmann und Koloman Moser starke Übereinstimmungen aufzeigen. Beispielhaft sei hier ein Schreibschrank von Kolo Moser aus dem Jahr 1903 für Berta Waerndorfer herausgegriffen (Abb. 155). Die nahezu quadratische Front des Schreib- schranks ist durch sich absetzende Furniere an den rechteckigen Türen und Schubladen gegliedert. Diese Gestaltung wird auch im Inneren bei heruntergeklappter Schreibtisch- platte fortgeführt. Die seitlich angebrachten Schrankelemente können über Schienen in der Schreibtischplatte herausgezogen wer- den. Der Typ des Schreibschranks war im Empire und Biedermeier besonders beliebt und verweist auf die Inspiration durch diese Epochen. Während er sich nach außen ruhig und verschlossen präsentiert, überrascht er im Inneren mit „raffinierten Geheimfächern, die gleichzeitig das Bedürfnis nach Spiel und Sicherheit befriedigen“107. Ein würfelförmiger Armlehnstuhl konnte passgenau in den Schreibschrank von Kolo- man Moser eingeschoben werden. Im Ver- gleich mit Singers Schreibtisch Ti28, insbe- sondere einer Ausführung dieses Schreibtischs für Margarete Neumann aus dem Jahr 1930, fällt die Übereinstimmung bei der kubischen Gesamtform des Möbels, die verdeckte innere Gestaltung und das Einschachteln des auf ei- ner Würfelform beruhenden Sitzmöbels auf 106 Wick 1994a, S. 22. 107 Ottomeyer/Witt-Dörring 2006, S. 122. Abb. 155: Koloman Moser, Schreibschrank, 1903. © 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0