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Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
trischen Formen basierende Architektur gleichsam konterkariert wurde (Abb. 429). Für
Bauten der Moderne stellt die buchstäbliche „Bepflanzung“ des Hauses eine Ausnah-
meerscheinung dar. Einerseits erscheint die gesteigerte Verbindung von Haus und Garten
wie eine Fortführung der Reformgedanken zum Garten um 1900, andererseits nimmt
sie Konzepte begrünter Architektur der 1970er- und 1980er-Jahre vorweg (Abb. 430).562
5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung
Mit der Konzeption von multifunktionalen und raumsparenden Möbeln griff die Ateli-
ergemeinschaft das Architektur-Thema der Zwischenkriegszeit auf – kleine Räume opti-
mal auszunützen und Wohnkomfort auf kleinster Fläche zu schaffen. Obwohl in Franz
Singers Text „Das moderne Wohnprinzip“ die Einrichtungen „nicht nur für den Mittel-
stand, sondern auch für die Arbeiterschaft“563 gefordert wurden, ließ Singer die Möbel
aber nicht in Serie bei großen Herstellern produzieren. Nur so hätten sie allerdings von
breiteren Bevölkerungsschichten kostengünstig erworben werden können. Singer war
zwar durchaus bemüht, Kontakte zu potenziellen Herstellern aufzubauen, doch eine tat-
sächliche Zusammenarbeit scheiterte oftmals aufgrund der zu aufwendigen Konstruktion
der Möbel. In der Zeitschrift Die Form sprach man bei den auf der Ausstellung „Wiener
Raumkünstler“ präsentierten Klapptischen von einem „Tischlein-deck-dich-Scherz“564
und in der Zeitschrift Decorative Art wurde das Design der Möbel als zwar raffiniert,
aber willkürlich bewertet: „Very ingenious combination furniture: tables and chairs fold
up, slide into another and are hidden away. He has evidently great intelligence, but the
design is arbitrary and dry cut at times, and the furniture is too sensible to be graceful.“565
Daran schließt auch die Position von Architekt Florian Adler566 an, der der Meinung war,
dass die Möbel zwar durch ihre Originalität auffielen und innovativ, „aber in konstrukti-
ver Hinsicht eher plump, alles andere als technologisch und ganz und gar nicht geeignet
für die Herstellung in großer Serie“ seien.567 Elmar Berkovich von Metz & Co erachtete
die meisten Entwürfe als zu kostspielig in der Produktion, was zur Folge hatte, dass
letztendlich nur zwei Stahlrohr-Tische in das Sortiment der niederländischen Firma auf-
genommen wurden. Ein zum Teil nicht ausreichend durchdachtes Design ist ebenso an
562 Vgl. Forschungsgesellschaft Landschaftsentwicklung Landschaftsbau e. V. 1983; Forschungsgesell-
schaft Landschaftsentwicklung Landschaftsbau e. V. 1989.
563 Kölner Tageblatt 1931.
564 Lotz 1931, S. 42.
565 The Studio Year-Book of Decorative Art 1931, S. 35.
566 Florian Adler war der Sohn von Margit Téry-Buschmann und Bruno Adler. Er war verheiratet mit
Judith Adler, der Tochter von Anny Wottitz-Moller und Hans Moller.
567 Adler 1988, S. 34.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482