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„Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien
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der aufgezeigten Raumsparmaßnahmen in den 1920er- und 1930er-Jahren eine beliebte
Möglichkeit in der Gestaltung von Wohnräumen war, die als innovativ und zukunfts-
weisend galt. Die Einraum- und Kleinwohnungen richteten sich allerdings an eine wohl-
habende, bürgerliche Klientel und waren Ausdruck einer sich strukturell verändernden
Gesellschaft.439
5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina
Seit 1922 wurde am Bauhaus die Hinwendung zu den Problemfeldern der Zeit, wie
der Wohnungsfrage und dem Rationalisieren von Bauvorgängen, grundlegend. Im
Zuge der Siedlungsplanung für die 1922 gegründete Bauhaus-Siedlungsgenossenschaft
GmbH wurden von Fréd Forbát und Walter Gropius Pläne zur Typisierung des Wohn-
baus ausgearbeitet. Forbát entwarf einen zweigeschossigen Grundkörper mit Mittel-
risalit und ein Sortiment aus sieben standardisierten Raumkörpern, aus denen unter-
schiedliche Haustypen – von Gropius als „Wabenbau“ bezeichnet – entstehen konnten
(Abb. 368–369). Nach Ablehnung der ersten für einen Bau vorgesehenen Häuser durch
die Stadtverwaltung Weimar ließ Gropius, basierend auf Forbáts Entwürfen, eine zweite
Typenreihe entwickeln, den auf der Bauhausausstellung 1923 gezeigten „Baukasten im
Großen“ (Abb. 42).440 Der Grundkörper wird hier vom Wohnraum ausgefüllt und von
den übrigen Raumkörpern ergänzt (Abb. 370).441 Ausgehend von der Vorstellung einer
Maschinenmontage aus vorgefertigten Teilen markiert der „Baukasten im Großen“ den
Wendepunkt am Bauhaus zum rationalen Industriezeitalter.442
Die etwa zeitgleich mit den Planungen Forbáts am Bauhaus entstandenen Hausent-
würfe von Dicker und Singer greifen das Prinzip des Baukastens noch nicht auf. Erst ab
1929 befasste sich die Ateliergemeinschaft mit dem Thema eines typisierten Wohnhaus-
baus in ihren Studien zu „wachsenden“ Wohnhaustypen für die Besiedlung Palästinas.
Für das Projekt vermittelte Franz Singers ältester Bruder Paul, der in London lebte
und für die Palestine Economic Corporation tätig war. Die Gesellschaft mit Sitz in den
USA war Basis für Investitionen amerikanischer Juden in Palästina und veranlasste auf-
grund des regen Zustroms in das junge Land auch den Bau neuer Häuser.443
439 Weigel 1991, S. 4, 7.
440 Winkler 1994, S. 299–300.
441 Winkler 1993, S. 84–86. Martin Kieren verweist in diesem Zusammenhang auf den bereits 1914
von Corbusier entwickelten „Dom-Ino-Baukasten“. Siehe: Kieren 20062, S. 195.
442 Winkler 1993, S. 86.
443 Zunächst investierte und operierte die Gesellschaft mit der Zentralbank für Genossenschaftsinsti-
tutionen in Palästina: Palestine Mortgage und Credit Bank Ltd., Palestine Water Company Ltd.,
Bayside Land Corporation Ltd. und Loan Bank Ltd. Siehe: AICE 2017.
© 2021 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205213161 | CC BY-NC 4.0
Bauhaus in Wien?
Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Titel
- Bauhaus in Wien?
- Untertitel
- Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer
- Autor
- Katharina Hövelmann
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21316-1
- Abmessungen
- 17.4 x 25.6 cm
- Seiten
- 492
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 9
- 1.1 Ein vergessenes Kapitel Wiener Design- und Architekturgeschichte 9
- 1.2 Forschungsstand 10
- 1.3 Quellenlage 15
- 1.4 Forschungsziele und Methodik 21
- 2 Dickers und Singers künstlerische Ausbildung im Zeichen von Kunstschulreform und Lebensreformbewegung 27
- 2.1 Die Zeit in Wien 27
- 2.1.1 Herkunft und Ausbildung bis 1916 27
- 2.1.2 Kunstschule Johannes Itten und Netzwerke 1916–1919 33
- 2.2 Studienzeit am Bauhaus in Weimar 1919–1923 47
- 2.2.1 Die Wiener Gruppe um Johannes Itten 47
- 2.2.2 Unterricht 56
- 2.2.3 Erste Architekturentwürfe – Vier Einfamilienhäuser 77
- 3 Berufliche Anfänge 89
- 3.1 Aufträge für Theater in Dresden und Berlin 1921–1922 89
- 3.2 Werkstätten Bildender Kunst GmbH, Berlin 1923–1926 92
- 3.2.1 Arbeiten für Die Truppe 107
- 3.2.2 Die Auflösung 114
- 4 Die Wiener Ateliergemeinschaft 1925–1938 117
- 4.1 Die Zusammenarbeit von Dicker und Singer 1925–1931 117
- 4.2 Architekturfachkenntnis im Hintergrund – Die AteliermitarbeiterInnen 134
- 4.3 AuftraggeberInnen 140
- 4.4 Strategien der Bewerbung 147
- 4.4.1 Axonometrie und Modell 147
- 4.4.2 Fotografie 154
- 4.4.3 Publikationen 157
- 4.5 Dickers und Singers Wege ab 1933/1934 162
- 5 „Das moderne Wohnprinzip“ – Zwischen Bauhaus und Wien 173
- 5.1 Das Bauhaus als Basis 173
- 5.2 Zur Situation in Wien – Innenraumgestaltung und Architektur 175
- 5.2.1 Die Wiener Moderne um 1900 175
- 5.2.2 Wien in der Zwischenkriegszeit 177
- 5.3 Theorie und Anspruch der Ateliergemeinschaft 182
- 5.4 Einrichtungsgegenstände: Möbel, Leuchten und Kachelöfen 185
- 5.4.1 Vom Einzelstück zur Typisierung – Frühe Möbel 1925–1929 185
- 5.4.1.1 Bauhaus und De Stijl als Vorbild 185
- 5.4.1.2 Verwandelbarkeit als Prinzip 202
- 5.4.1.3 Verbindungen zum Wiener Jugendstil und Biedermeier 210
- 5.4.1.4 Zwischen sozialem und künstlerischem Anspruch: Typisierungstendenzen 216
- 5.4.1.5 Möbeltischler und Hersteller 228
- 5.4.2 Wege zur Serienfabrikation – Stahlrohr- und Sperrholzmöbel 1929–1938 230
- 5.4.2.1 Der Stahlrohrstapelstuhl von Bruno Pollak 234
- 5.4.2.2 Stahlrohrmöbelentwürfe der Ateliergemeinschaft 238
- 5.4.2.3 Hersteller und Produktionsversuche der Stahlrohrmöbel 251
- 5.4.2.4 Entwürfe für die Firma Metz & Co 253
- 5.4.2.5 Sperrholzmöbel 261
- 5.4.2.6 Produktionsversuche der Sperrholzmöbel 264
- 5.4.3 Eine Welt für Kinder – Kindermöbel und Baukastenspiele 1927–1938 266
- 5.4.4 Leuchten und andere Metallarbeiten 289
- 5.4.5 Kachelöfen 302
- 5.5 Raumgestaltungen und Architektur 309
- 5.5.1 Verwendung von Farbe als Gestaltungsmittel 309
- |5.5.2 Intervention im Haus Moller von Adolf Loos und im dazugehörigen Garten 319
- 5.5.2.1 Ein neu entdeckter Möblierungsentwurf 319
- 5.5.2.2 Das Zimmer für Anny Wottitz-Moller 334
- 5.5.2.3 Das Gartenhaus 337
- 5.5.3 Wohnkonzepte auf kleinster Fläche 339
- 5.5.3.1 Einwohnräume 339
- 5.5.3.2 „Wachsende Häuser“ – Entwürfe für Kleinhauswohnbauten in Palästina 362
- 5.5.4 Fulminanter Höhe- und Endpunkt – Das Gästehaus Auersperg-Hériot 379
- 5.6 Epilog: Sozialer Anspruch oder Zeitgeist? – Eine kritische Bewertung 411
- 6 Resümee und Ausblick 417
- 7 Anhang 425
- 7.1 Quellentexte 425
- 7.2 Biografie Friedl Dicker / Franz Singer 428
- 7.3 Archive und Sammlungen 431
- 7.4 Literatur 436
- 7.5 Webseiten 473
- 7.6 Bildnachweis 477
- 7.7 Abkürzungen 480
- 7.8 Abstract 481
- 7.9 Register 482