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Klappmesser mit vom vorliegenden Exemplar aus
Flavia Solva-Wagna zu differenzierender zwei-
schaliger Griffkonstruktion sind in Augusta Raurica-
Augst788 und Aquileia789 nachgewiesen.
Die Funktion der Halbrundstab-Fragmente Kat. 513 –
515 ist nicht näher zu bestimmen. Zur Produktion
wurden möglicherweise sowohl Kleinwiederkäuer-
als auch Rinderknochen (Langknochen, scapula,
tibia [?]) herangezogen. Die Applizierung auf einer
planen Fläche liegt durch die entsprechende plane
Ausarbeitung der ›Rückseite‹ nahe. In Verbindung
mit den im Fundmaterial vorliegenden Beinelemen-
ten, die als Kästchenverkleidungen etc. gedeutet
wurden, darf vielleicht eine entsprechende Funktion
der neutral als Halbrundstäbe bezeichneten Arte-
fakte in Erwägung gezogen werden.
Die Leisten Kat. 516 – 529, von denen Kat. 516,
518 – 519 und 521 an den Schmalseiten mit einer
Gehrung versehen sind, könnten zur Produktion
von Kästchen- oder Kästchendeckelverkleidungen
vorgesehen gewesen sein. Die Gehrung beschreibt
jeweils einen Winkel von ca. 45° und zeigt damit
an, dass diese Leisten wohl für Verbindungen in
einem Winkel von 90° dienten (Fototaf. 8). Stärke
und Abmessungen der Leisten Kat. 516 – 522 sind
weitgehend identisch. Zur Fertigung wurden wahr-
scheinlich primär Rinderknochen herangezogen.
Eine gewisse Vorstellung von den Dimensionen und
der Form eines antiken Kästchens gibt die Rekon-
struktion des frühchristlichen Kästchens aus einem
Frauengrab bei Heilbronn, das aus einem Holzkern
mit Beinverkleidung besteht790. Eine vermutlich
spätantike Werkstätte zur Herstellung von Kästchen
aus der Kombination von Bein- und Holzbestand-
teilen konnte in Gloucester aufgedeckt werden791.
Die Verkleidung eines Holzkästchens mit Elfenbein-
elementen, speziell eine Einfassung des Deckel-
randes mit vergleichbaren Eckverbindungen durch
Gehrung, ist an einem rechteckigen Kästchen aus
Cumae zu beobachten792. Die Rahmenkonstruktion
aus zusammengefügten Leisten mit Gehrung einer
»Beinplakette« aus Ägypten793 ist mit den vorlie-
genden Leisten nicht vergleichbar. Grundsätzlich
entsprechende Leisten, allerdings mit abweichender
Gehrung, sind aus Nîmes für die Konstruktion recht-
eckiger Beinkästchen mit Schiebedeckel belegt794.
788 Riha 1986, 30 – 31. 180 Taf. 65, 88.
789 Buora – Jobst 2002, 214 Nr. 3; 32 – 34.
790 Goeßler 1932, 294 – 299 Abb. 1 Taf. 17.
791 Hassal – Rhodes 1974, 72 f. Abbb. 28, 36; Crummy 1981,
285; Crummy 2001, 100.
792 Mellilo 2007, 273 f. Abb. 8, 14.
793 Marangou 1976, 117 Taf. 50, 169 a.
794 Béal 1984, 92 – 94 Abb. Taf. 19, 366 (Gehrung über die Breite
der Leiste, nicht an deren Schmalseite wie bei den Leisten
aus Insula XLI). Neben der möglichen Verwendung der Leisten als
Bestandteile von Kästchen darf in Zusammenhang
mit den vielleicht einer Kammproduktion zuzurech-
nenden Beinartefakten Kat. 576 – 577 auf Befes-
tigungsleisten für die Nietverbindungen von Drei-
lagenkämmen, die mitunter abgeschrägte Kanten
aufweisen können, hingewiesen werden795.
Bei den kleineren Leisten Kat. 523 – 529 muss es
sich nicht zwingend um Produktionsabfallstücke
handeln. Zumindest für kleinere Leisten, die keine
Bruchflächen aufweisen, wie Kat. 523 – 524 und
Kat. 526 – 527, darf vielleicht daran gedacht werden,
dass diese durchaus noch für eine Verwendung im
Rahmen der Produktion, z. B. als Füllstücke etc.,
herangezogen werden konnten.
Ob es sich bei den kleinen mit einer Nut versehenen
Beinfragmenten Kat. 528 – 529 um Halbfabrikate,
die als Konstruktionselemente weiterverarbeitet
wurden, oder um beabsichtigten oder unbeabsich-
tigten Produktionsabfall (vgl. Kap. 13.1.2 Abb. 36)
handelt, ist nicht zu entscheiden. Die sorgfältig aus-
gearbeitete Nut weist darauf hin, dass diese Arte-
fakte oder größere, nicht erhaltene Objekte, von
denen die Stücke Kat. 528 – 529 abgesägt worden
waren, zur Verbindung mit weiteren Konstruktions-
elementen durch Aufschieben oder Aufstecken dien-
ten. Entsprechend dünnwandige Beinartefakte wie
Kat. 571 könnten im Zusammenhang mit der Nut
als Schiene für eine bewegliche Führung verwen-
det worden sein. Beinkästchen mit Schiebedeckel
weisen beispielsweise grundsätzlich vergleichbare
Konstruktionselemente auf. Die vorliegenden Abfall-
stücke oder Halbfabrikate liefern zumindest Indizien
für vergleichbare Fertigungstechniken. Ob es sich
konkret um Kästchen mit Schiebedeckel handelt,
muss – auch wegen der filigranen Ausführung der
vorliegenden Artefakte – offenbleiben.
Die als Verkleidungsplatten angesprochenen Arte-
fakte 530 – 541 dürften für die Produktion von Käst-
chen vorgesehen gewesen sein796. Grundsätzlich
liegen in Kombination mit den Leisten Kat. 516 – 529
jedenfalls Bestandteile vor, wie sie z. B. durch ein –
in Details freilich abweichendes – Arzneikästchen
aus Holz aus Noviomagus-Nijmegen illustriert wer-
den797. Rechteckige (Kat. 530 – 537), trapezförmige
(Kat. 538 – 540) und polygonale Platten (Kat. 541)
sind formal zu differenzieren. Im Rahmen der Pro-
duktion dürften vor allem Rinderknochen (Langkno-
chen, Rippen, Schulterblätter) verwendet worden
sein.
Bemerkenswert ist das auf der Platte Kat. 530 ange-
brachte Kreisauge, nach dem zumindest für diese
Platte die Außenseite sicher zu bestimmen ist. Bein-
795 Deringer 1967, 69 – 71 Nr. 18 – 20 Textabb. 11 – 13.
796 Gostenčnik 2005, 338 – 340.
797 Künzl 1982, 93 – 95 Abb. 74. 76.
Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Titel
- Ein Brandhorizont aus der Zeit der Markomannenkriege im südostnorischen Munizipium Flavia Solva
- Autor
- Christoph Hinker
- Verlag
- Österreichisches Archäologisches Institut
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-900305-70-3
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 344
- Schlagwörter
- Flavia Solva, materielle Kultur, Artefakt (Archäologie), Brom, Glimmergruppe, Insula, Magerung, Thüringische Drehscheibenkeramik
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Einleitung 9
- 1 Lage 11
- 2 Historischer Kontext 15
- 3 Forschungsgeschichte 23
- 4 Forschungsmeinungen 27
- 5 Quellenkritik 31
- 6 Terminologie 35
- 7 Taphonomie 37
- 8 Exkurs: Korrespondierende Befunde im Munizipium Flavia Solva? 49
- 9 Die Architektur der Insula XLI (Haus I–VI) 51
- 10 Definition von Aktivitätszonen 57
- 10.1 Exkurs: Grube G21 66
- 10.2 Exkurs: Grube G32 72
- 11 Fundauswertung 77
- 12 Chronologie 153
- 13 Technologie und Werkstätten 157
- 14 Der Brandhorizont der Insula XLI im urbanen kultur-geschichtlichen Kontext von Flavia Solva 167
- 15 Brandzerstörungen aus der Zeit der Markomannenkriege in Noricum, Pannonien und Rätien 171
- 16 Diskussion: Ergebnisse und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 179
- 16.1 Holzarchitektur 180
- 16.2 Schadensfeuer 180
- 16.3 Pompeji-Prämisse 180
- 16.4 Militaria 181
- 16.5 Menschliche Skelettreste 182
- 16.6 Übrige Funde, speziell Metallfunde 183
- 16.7 Bebauungsmuster der Insula XLI nach Periode II/II+ 184
- 16.8 Forschungsstand zu Flavia Solva 186
- 16.9 Die südostnorische Siedlungslandschaft und das Szenario eines Germaneneinfalls 186
- 16.10 Tradierung von Forschungsmeinungen versus kritischer Prüfung 187
- 16.11 Fragenkatalog und Synthese 187
- 17 Ausblick: Zur Frage der Historizität in der Provinzial- römischen Archäologie 189
- 18 Resümee 195
- 19 Katalog 199
- 20 Tafeln 263
- Tafeln 1 – 43 265
- Fototafeln 1–9 308
- Typentafel mit Tabellen 20 und 21 317
- 21 Anhang 321