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4.1. Die Wiege des ästhetischen Formalismus? – Kants Kritik der Urteilskraft
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tät erzwungen: „Das ‚System‘ macht allmälig der ‚Forschung‘ Platz und diese
hält fest an dem Grundsatz, daß die Schönheitsgesetze jeder Kunst untrenn-
bar sind von den Eigenthümlichkeiten ihres Materials, ihrer Technik“ (VMS,
S. 23). Kants Kritik der Urteilskraft kann diese essentielle Bedingung der spezifi-
schen Musikästhetik nach Hanslicks Vorstellung jedoch nicht einmal rudimen-
tär befriedigen und hätte daher von ihm als spekulative Philosophie prinzipi-
ell verworfen werden müssen. Die zweite, gleich genauer erörterte Differenz
von Hanslick und Kant betrifft ebenso methodische Divergenzen und somit
basale Probleme, die die elementare theoretische Gegensätzlichkeit dieser bei-
den Autoren erhellen. Die sicherlich wichtigste Innovation von Kants Lehre
ist die transzendentale philosophische Verfahrensweise: Wie die beiden ersten
Kritiken die Bedingung der Möglichkeit von Wissen und Moral eruiert haben,
ist die dritte Kritik mit der Bedingung der Möglichkeit der Urteilskraft sowie
deren apriorischer Beschaffenheit beschäftigt.
Demnach resultiert seine ästhetische Abhandlung aus subjektiver Perspek-
tive, was vom ersten Absatz der Kant’schen Urteilskritik bereits belegt wird:984
„Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, son-
dern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund
nicht anders als subjektiv sein kann“ und das „auf das Subjekt und das Gefühl der
Lust oder Unlust desselben“ bezogen wird.985 Dieser Punkt, der die allgemeine
Ausrichtung von Kants Lehre auf den Punkt bringt, wurde durch Hanslick
eindeutig abgelehnt: Die objektive, spezifische Musikästhetik als szientifische
Fachrichtung, die der positivistischen Naturwissenschaft methodisch angenä-
hert wird (Kap. 2.1), müsste ein solches Vorgehen aufgeben, das „vom subjec-
tiven Gefühl ausgeht, um nach einem poetischen Spaziergang über die ganze
Peripherie des Gegenstandes wieder zum Gefühl zurückzukehren“. Sie hat
dagegen vielmehr „die Regel festzuhalten, daß in ästhetischen Untersuchun-
gen vorerst das schöne Object und nicht das empfindende Subject zu erforschen
ist“ (VMS, S. 22 und 24). Wie Bonds korrekt festhielt: „Beauty, to Hanslick’s
mind, is an intrinsic quality of objects and has nothing to do with percep-
tion“986 – ein Satz, der „thoroughly anti-Kantian“ war.987 Für den englischen
Sprachraum muss aber betont werden, dass Payzants Fassung diese klare Idee,
die mit Kants Kritik keinesfalls kompatibel ist, wesentlich verunklart hat, da er
sie als „the principle that the primary object of aesthetical investigation is the
984 Um Fehldeutungen vorzubeugen: Dieser Ansatz von Kants Lehre erscheint subjektiv,
nicht aber die ästhetische Beurteilung, die allgemeine Mitteilbarkeit involviert und die den
privaten Bereich des vollständig Subjektiven übersteigt.
985 Kant, Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 40), S. 47f. (§1, A203–205).
986 Bonds, Absolute Music (wie Anm. 31), S. 188–189.
987 Bonds, „Replies to Critics“ (wie Anm. 449), S. 99.
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Title
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Subtitle
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Author
- Alexander Wilfing
- Publisher
- Hollitzer Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Size
- 16.0 x 24.0 cm
- Pages
- 434
- Keywords
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Category
- Biographien
Table of contents
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423