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4.3. Hanslick, der Formalist: adäquate Kategorie oder leerer Begriff?
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derselben werden wir ohne Bedenken ‚geistreich‘ nennen“ (VMS, S.Â
87). Hans-
licks Unschärfe, aus der man die Faktoren zur Bewertung von bestimmten
Musikstücken schwerlich herleiten kann, ist aber auch methodisch aufzufassen,
da er keinerlei normative Forderung aufstellt, sondern vielmehr die Bedingung
der Möglichkeit von Schönheit generell auslotet (VMS, S. 92). Doch auch ohne
konkrete Definition ist der Gehalt von Musik in Hanslicks VMS-Traktat mit
der wesentlichen Bestimmung als „Schöpfung des Geistes aus geistfähigem
Material“ (VMS, S. 171) doppelt befestigt: Denn nicht nur das musikalische
‚Grundmaterial‘ als kulturell geformtes Erzeugnis ist bereits geistig gesättigt,
sondern ebenso dessen individuelle Aneignung und spontaner Gebrauch durch
einen ‚geistvollen‘ Komponisten.1190 Wie Bowman pointiert festhielt: „Nor
were Hanslick’s forms empty, cerebral abstractions – skeletal affairs, unclothed
mannequins. They were concrete, kinetic, vital. They moved.“1191
Wenn man den englischen Sprachraum exklusiv erörtert, erkennt man,
dass sich eine spezielle Deutung der Hanslick’schen Formalästhetik als auto-
nome Definition von ‚reiner‘ Musik weitestgehend durchgesetzt hat, die wohl
auch als strukturalistische Musikkonzeption gefasst werden könnte. Hier sind
zwar auch differenzierte Detailanalysen festzuhalten, wenn etwa Eero Tarasti
Hanslick als Vorläufer der semiotischen Musikanalyse charakterisiert,1192 ein
tatsächlicher semiotischer Ansatzpunkt jedoch negiert wird,1193 den Raymond
Monelle Hanslick wiederum attestiert.1194 Die Bewertung Hanslicks als ästhe-
tischer Strukturalist bleibt trotz dieser nuancierten Erläuterungen zu semio-
tischen Teilaspekten von VMS aber ziemlich konstant. Schon Julius Portnoy
hat Hanslicks Musikbild als „self-contained art which had no reference to
1190 Dieser Punkt wird meistens ignoriert, so etwa wenn Gracyk, On Music (wie Anm. 968),
S. 33f., die historische Konstitution von Hanslicks Begriff ‚Geist‘ komplett übersieht und
ihn mit Adornos Theorien zum historischen Materialstand korrigieren möchte, welcher
erfasse, dass ‚Form‘ historisch überliefert und selbst wieder Material zum Material sei.
Dass „musical structures“ als „large-scale structures“ selbst wieder „musical material“
seien, hatte Hanslick eindeutig vertreten (Kap. 2.1), weshalb Gracyks Einwand ins Leere
läuft. Siehe dazu auch: Wilfing, „Hanslick und Ambros“ (wie Anm. 428).
1191 Bowman, „Musical ‚Formalism‘“ (wie Anm. 410), S. 47. Für einige andere ausgewählte
Betonungen der geistigen Sättigung aus dem englischen Sprachraum vgl.: Anthony Storr,
Music and the Mind, New York 1992, S. 74; Ian D. Bent, Music Analysis in the Nineteenth
Century, Cambridge 1994, Bd.Â
2, S.Â
33; Burford, „Hanslick’s Materialism“ (wie Anm.Â
64),
S. 179; Paddison, „Music as Ideal“ (wie Anm. 63), S. 335; Hirt, Machines Chopin (wie
Anm. 64), Kap. 3.
1192 Eero Tarasti, „Music History Revisited (by a Semiotician)“, in Musical Semiotics in Growth,
hrsg. von Eero Tarasti, Bloomington/Indianapolis 1996, S. 5–36, hier S. 31.
1193 Eero Tarasti, A Theory of Musical Semiotics, Bloomington/Indianapolis 1994, S. 30.
1194 Monelle, Semiotics (wie Anm. 755), S. 10.
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Title
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Subtitle
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Author
- Alexander Wilfing
- Publisher
- Hollitzer Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Size
- 16.0 x 24.0 cm
- Pages
- 434
- Keywords
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Category
- Biographien
Table of contents
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423