Page - 274 - in Re-Reading Hanslick's Aesheticts - Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
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5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption
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Musikästhetik weiterhin dominiert, sei eine fast vollständige Wiedergabe der
betreffenden Textpassage eingeschoben:
Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isolirt da, so daß sie sich aus ihr
gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die Darstellung der üb-
rigen Geistesthätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im Gegentheil abhängig von
physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, sind bedingt durch Vor-
stellungen, Urtheile, kurz durch eben das ganze Gebiet verständigen und ver-
nünftigen Denkens, welchem man das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches ge-
genüberstellt. […] Nur auf der Grundlage einer Anzahl – im Moment starken
Fühlens vielleicht unbewußter – Vorstellungen und Urtheile kann unser See-
lenzustand sich zu eben diesem bestimmten Gefühl verdichten. Das Gefühl der
Hoffnung ist untrennbar von der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes,
welcher kommen soll und mit dem gegenwärtigen verglichen wird. Die Weh-
muth vergleicht ein vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz be-
stimmte Vorstellungen, Begriffe, Urtheile. Ohne sie, ohne diesen Gedankenap-
parat kann man das gegenwärtige Fühlen nicht ‚Hoffnung‘, nicht ‚Wehmuth‘
nennen, er macht sie dazu. Abstrahirt man von ihm, so bleibt eine unbestimmte
Bewegung, allenfalls die Empfindung allgemeinen Wohlbefindens, oder Miß-
behagens. […] Nicht die Art der bloßen Seelenbewegung, sondern ihr begriffli-
cher Kern, ihr wirklicher historischer Inhalt macht sie zur Liebe. Ihrer Dynamik
nach kann diese ebensogut sanft als stürmisch, ebensowohl froh als schmerzlich
auftreten und bleibt doch immer Liebe. Diese Betrachtung allein reicht hin, zu
zeigen, daß Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjectiva ausdrücken
könne, nie das Substantivum, die Liebe, selbst. Ein bestimmtes Gefühl (noch
mehr eine Leidenschaft und ein Affect) existirt als solches niemals ohne einen
wirklichen historischen Inhalt, der eben nur in Begriffen dargelegt werden
kann. Begriffe kann die Musik als ‚unbestimmte Sprache‘ zugestandener Weise
nicht wiedergeben – ist nicht die Folgerung psychologisch unablehnbar, daß sie
auch bestimmte Gefühle nicht auszudrücken vermag? Die Bestimmtheit der Ge-
fühle ruht ja gerade in deren begrifflichem Kern (VMS, S. 43–45).
Diese recht frühe Version eines kognitivistischen Emotionskonzepts besitzt je-
doch etliche historische Wegbereiter und ist in Hanslicks VMS-Traktat daher
nicht erstmals benutzt worden. Für Hanslicks Hypothese scheint erneut Her-
barts System zentral, das – wie Landerer anmerkte – einen kognitiven „Re-
duktionismus“ propagiert hat,1395 der „Gefühle[ ] als Unterklasse von Vorstel-
lungen“ sah und die notwendige Verknüpfung von Emotion und Intellekt ver-
gleichbar konstatierte.1396 Im Hinblick auf die Antike hat wohl auch Aristoteles
eine verwandte Hypothese entwickelt, für den spezifische Emotionen aus fol-
1395 Landerer, „Form und Gefühl“ (wie Anm. 290), S. 54.
1396 Landerer, „Österreichische Geistesgeschichte“ (wie Anm.
18), S.
60. Vgl.: Schäfke, Eduard
Hanslick (wie Anm. 21), S. 13; Jäger, „Weg in die Moderne“ (wie Anm. 91), S. 210–214.
Table of contents
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Übersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Übersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Übersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423