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IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn?
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Mitschuld an der manchmal nicht gerechtfertigten Beamtenvermehrung hatten,
nicht von der Hand zu weisen. Die Experten wurden allerdings vielmehr noch
durch die Auswahlkriterien bedenklich gestimmt, die eine Postenvergabe nicht an
die Qualitäten eines Beamten band, sondern an Mitgliedschaften in Parteien oder
in diesen nahestehenden Vereinen.
Im Reichsrat, wo angeblich das Übel des Protektionismus seine Wurzeln
hatte, protestierte der sozialdemokratische Abgeordnete Otto Glöckel 1912 ge-
gen diese Praxis und meinte – wahrscheinlich etwas überspitzt –, dass es unter
den nationalen Abgeordneten „Personalreferenten“ gäbe, die dafür sorgten, dass
ihre Landsmänner (von Frauen war noch nicht die Rede) im Staatsdienst avan-
cierten.139
Für Verwaltungsexperten war freilich gegen Ende der franzisko-josephinischen
Ära auch bezüglich der Wiener Zentralstellen, in der Öffentlichkeit als Hort der
Objektivität und Gerechtigkeit angesehen, höchster Alarm angesagt. Immer
mehr, so schildert Friedländer den Zustand in der Spätzeit der Monarchie, „drin-
gen in die hohen Ämter des Staates die fleißigen und tüchtigen Deutschböhmen
und Deutschmährer ein, gescheite und anständige Menschen, die in die Traditi-
onen des österreichischen Beamtentums gut hineinpassen. Aber sie bringen aus
ihrer Heimat einen anderen Begriff von Loyalität mit, als er in Wien üblich ist. Sie
kommen aus einem Land des nationalen Kampfes, sie kommen aus der Provinz
und den nationalen Burschenschaften. Bei ihnen steht die Treue zum Deutschtum
und zu den gleich gesinnten Kommilitonen an erster Stelle – noch vor der Treue
zum Reich.“ In ihrer Werteskala stünden die nationalen Ziele über allen anderen
sittlichen und religiösen Pflichten, sie hätten auch die Methodik entwickelt, sie
durchzusetzen – allerdings, ohne dass sie sich nach außen deklarierten. Sie sorgten
angeblich vor allem dafür, dass der Nachwuchs sowohl im höheren Beamtendienst
als auch in den Stellen der Kanzleibeamten aus den nationalen Burschenschaften
käme. Die Tschechen, Slowenen und all die anderen Nationen würden diese Me-
thode sehr rasch lernen und auf diese Weise, so schließt Friedländer, „zersetzt der
nationale Kampf das Beamtentum von innen heraus […]. Innerlich werden die
Beamten immer weniger Österreicher und immer mehr nationale Kämpfer. Die
Bevölkerung verliert das Vertrauen zur Objektivität der Beamten – gerade in den
139 RRPROT., über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates,
XXI. Session, 82. Sitzung am 22. Mai 1912, S. 3951; auch bei URBANITSCH, Vom „Fürsten-
diener“ zum „politischen Beamten“, S. 158 f.; siehe die Fälle von Interventionen im Kapitel
„Parteipolitische Konfliktszenen“.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277