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9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme
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Entscheidungsfindung oft langwierig und für den Staatsbürger undurchschaubar.
Kafkas Zeichnung der geheimnisvollen, dunklen, bedrohlichen Mächte,222 mit
denen er die Bürokratie verband, mag mit dem intransparenten Behördenweg in
Verbindung gestanden sein.
Nehmen wir als Beispiel für Einflussnahmen das Ministerium für Cultus und
Unterricht, das sowohl Religion(en) als auch Unterricht, Wissenschaft und Kunst
verwaltete. Es stand daher im Brennpunkt der Kirchen, Religionen, der Schulen,
Universitäten, der Intellektuellen und Künstler, hatte damit einen „esoterischen“
Stempel und erweckte gewiss in den elitären Belangen von Kunst und Wissen-
schaft Anteilnahme, aber weit seltener das öffentliche Interesse (höchstens in
Schul- und Kirchenangelegenheiten), das spektakuläre Politik für ein breites Pu-
blikum braucht. Auch in der historischen Aufarbeitung wird dieses Ministerium
vernachlässigt, obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Disziplin Geschichte
in einem Nahverhältnis zu dieser Behörde steht. Eine Ausnahme bildet Jeroen
Bastiaan van Heerdes Buch, in dem der Tätigkeit dieses Ministeriums in Sachen
Kunst ab 1895 ein wesentlicher Beitrag gewidmet wurde.223 Das Ministerium für
Cultus und Unterricht soll uns als Exempel für Macht und Einflussnahme durch
bürokratische Geschäftsbehandlung (zumindest in der Materie Kunst) dienen.
Das Ministerium war seit 1867 in 15 Departements untergliedert. Der eigent-
liche politische Entscheidungsträger, der Minister, wurde von den Departements
– wie übrigens in allen anderen Ministerien – durch die Präsidialsektion abge-
schirmt, die die einlangenden Akten für den Minister zu beurteilen hatte. Die
Möglichkeit einer ständigen Einflussnahme der Präsidialsektionen konnte (und
kann) nicht hoch genug eingeschätzt werden, dessen war man sich in der Praxis
voll bewusst. Im Grund besaßen alle Beamten der Präsidialsektion Bedeutung,
selbst die jungen „Vorzimmerpinsche“, da sie beispielsweise bereits über die Vor-
lassung der Parteien zum Sektionschef oder Minister entscheiden konnten. Am
Hebel der Macht stand der Leiter der Präsidialsektion, der Sektionschef, der dem
Minister am nächsten war.224 Es gab Sektionschefs, denen mehr Geltung als dem
Minister nachgesagt wurde, wie dem bereits genannten Rudolf Sieghart.
Die Minister, die dem Unterrichtsministerium seit 1848 vorstanden, zeigen
gewissermaßen den gesellschaftlichen Wandel, der sich zwischen 1848 und 1918
222 Siehe „Franz Kafka und die irrationale Bürokratie“, HEINDL, Gehorsame Rebellen, S. 357–362.
223 JEROEN BASTIAAN van HEERDE, Staat und Kunst. Staatliche Kunstförderung 1895–1918
(Wien/Köln/Weimar 1993).
224 EHRHART, Im Dienste, S. 217 f.; KLEINWAECHTER, Der fröhliche Präsidialist, S. 56, 58,
62–69.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277