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V. Das soziale Umfeld
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die „kleinen“ Beamten, zum Mittelstand gehörig betrachtet haben, was immer der
subalterne Zeitgenosse der 1870er-Jahre unter dem Begriff Mittelstand verstanden
haben mochte. Verwendete er ihn als Synonym für Bürgertum, das sich bereits
von der alten Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft entwickelt hatte?256 Jeden-
falls gehörten, und das ist für uns wichtig, Beamte mit akademischer Bildung (ab
VI. Rangklasse) dem Bürgertum an. Die Selbsteinschätzung beantwortet uns die
Frage, die von Hansjoachim Henning in Bezug auf das westdeutsche Beamtentum
dieser Epoche erhoben wurde, ob denn die Beamten auch Bürger gewesen seien.257
Dem Selbstverständnis der österreichischen bürokratischen Eliten zufolge ist die
Frage eindeutig mit einem Ja zu beantworten. Es bleibt zu beschreiben, inwie-
weit sich auch der Lebensstil und die Reputation in der Öffentlichkeit, also die
Fremdeinschätzung, mit dem offensichtlichen bürgerlichen Selbstbewusstsein der
Beamten deckten. Das Einkommen sprach, wie wir sahen, nicht unbedingt dafür,
dem geachteten Bürgerstand angehört zu haben. Angesichts der in der Gründer-
zeit zumindest wohlhabend, ja reich gewordenen besitzbürgerlichen Gruppen der
Unternehmer, Industriellen, Händler, Künstler etc. konnte sich das Salär selbst
der Hochbürokratie kaum neben dem Besitzstand der Besitzbürger sehen lassen.258
Aber es gab eine nuancierte Skala des Bürgertums, dem die bürokratischen Eliten
angehören konnten.
Wenn Hansjoachim Henning die parteiliche Ausrichtung bzw. Zugehörigkeit
zum Maßstab nimmt und sich erkundigt, ob die Beamten dem Liberalismus oder
eher dem Konservativismus zuneigten, so müssen wir, wie im Übrigen auch Hen-
ning bezüglich des westdeutschen Bürgertums, an dieser Klassifikation scheitern.
Für eine Großgruppe ist diese (an sich bereits) schwierige Klassifikation nicht
– bzw. höchstens in Einzelfällen – möglich. Und auch dies ergibt ein disparates
Bild. Der liberale Universitätsprofessor Josef Redlich, einer der besten Kenner der
1850er- und 1860er-Jahre, sieht in der hohen Bürokratie cum grano salis den Mo-
tor der Modernisierung, des Rechtsstaates, der liberalen Bürgergesellschaft im Ge-
256 Auch John Boyer nimmt das Rangklassensystem als Beispiel, um zwischen Mittelstand und
Bürgertum in der Wiener Gesellschaft zu unterscheiden. BO�ER, Veränderungen im poli-
tischen Leben Wiens, S. 157 ff.
257 HANSJOACHIM HENNING, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindus-
trialisierung 1860–1914. Soziales Verhalten und soziale Strukturen I: Das Bildungsbürgertum in
den preußischen Westprovinzen (= Historische Forschungen 6, Wiesbaden 1972), S. 32; zit. auch
von JÜRGEN KOCKA, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte
vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka (Göttingen 1987), S. 59,
Anm. 26; siehe auch HEINDL, Gehorsame Rebellen, S. 225.
258 Siehe Kapitel „Ökonomische und soziale Verhältnisse“.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277