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VI. Inszenierungen
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Im Großen und Ganzen bestätigen die Beamten-Erinnerungen, dass die
Schriftsteller die Tatsachen und Weltsichten des beamteten Lebens nicht erfan-
den, sondern nacherzählten. Der Unterschied lag, wie bereits erwähnt, in der In-
terpretation. Gerade die Handlungen, Lebensgewohnheiten und Weltsichten der
Beamten, die von den Autoren der Belletristik als unverständlich, lebensfremd
oder komisch gezeichnet werden und die von der Außenwelt eher negativ wahrge-
nommen wurden, waren für die Beamten ernste Selbstverständlichkeiten, die gar
nicht anders sein konnten: Das erwähnte Denken in Rängen und Hierarchien,
die umständliche Erledigung einfacher Geschäfte, die oft schwerfällig erschei-
nenden Lebensgewohnheiten, das sture Festhalten an Traditionen, die unflexible
Vorgangsweise, die vom „Papier“, von den Gesetzen, Verordnungen und Akten,
diktiert wurde – Bilder, die sich bis heute in den Köpfen der Menschen festgesetzt
haben. Was für Diskrepanzen zwischen Fremd- und Selbstbild! Für die Beamten
waren diese Eigenschaften im Gegenteil Tugenden, die sie kraft ihres Amtes ent-
wickeln mussten, das andere nicht besaßen.
Aus den vielen Erinnerungen und Aussagen tritt uns das Psychogramm eines im
Vordergrund bescheiden wirkenden, in fast allen Rängen aber vorsichtig im Hin-
tergrund agierenden, von seinen Qualitäten überzeugten und daher nach gebüh-
rendem Einfluss heischenden Menschen entgegen. „Der österreichische Beamte“
höheren Ranges (sofern wir verallgemeinern dürfen) schätzte sich selbst in Aus-
übung seines Dienstes, den er (nicht grundlos) als etwas mühsam betrachtete, als
gewissenhaft und klug ein, er hielt vor allem viel von seiner Kreativität, für die
vielfältigen Probleme Lösungen zu finden, und war dabei auf Ausgleich (laut Fried-
länder „ein großer Teil der österreichischen Staatskunst“),511 das heißt auf die un-
aufdringliche Herstellung von Ordnung bedacht (und manchmal von Selbstqualen
geplagt, wenn ihm dies nicht gelang). Er betonte gerne seine umfassende huma-
nistische (bürgerliche) Bildung und Intelligenz und noch mehr seine Toleranz und
Gerechtigkeit im Amt und in der Gesellschaft. Er ist überzeugt, dass ihm Einfluss,
ja Macht im Amt und im Staat zustehen, obwohl er (oft) bescheiden das Gegenteil
betont. In der Regel versuchte er daher (offen oder verdeckt) mit allerlei Mitteln die
Karriereleiter emporzuklimmen. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, sich
selbst, so wie manche Schriftsteller ihn sahen, als unfähig für andere Berufe ein-
zustufen.512 Er hielt sich im Allgemeinen als kommunikationsfähigen (wie er nicht
in der Literatur gezeichnet wird), wenn auch nicht konfliktfähigen (wie er in der
511 FRIEDLÄNDER, Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 75.
512 Siehe Kapitel „Literarische Inszenierungen“.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277