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2. „Andersgläubige“, Sozialdemokraten und Künstler
von „Kathedersozialisten“ im Staatsdienst ist. Kurzzeitminister Erasmus Handel
sprach, wie oben erwähnt, von einem Präfekten des Elitegymnasiums Theresia-
num, der in seinen Augen „Kathedersozialist“ war, jedenfalls die Schüler dazu
anhielt, Karl Marx zu lesen. Vom Ruf des Finanzministers Emil Steinbach als
„Kathedersozialisten“, obschon bekannt als tief gläubiger Katholik, war schon
ausführlich die Rede.558 Steinbach holte Alexander Spitzmüller ins Präsidium, der
Steinbachs Gesinnung als „weit links“ bezeichnete. Diese für einen Beamten un-
gewöhnliche Ideologie störte den jungen Spitzmüller offensichtlich nicht, sondern
er bewunderte Steinbach und wurde von ihm so stark beeinflusst, dass er von
seiner eigenen liberalen Weltanschauung abrückte (allerdings ohne eine neue zu
finden).559 Die Verehrung Spitzmüllers war kein Wunder. Steinbachs schriftliche
Abhandlungen und mündliche Reden, in denen er das Spekulantentum sowie
andere Auswüchse des schrankenlosen Kapitalismus geißelte, waren modern. Sie
könnten auch in unserer heutigen europäischen Krisensituation publiziert wor-
den sein: „Der schrankenlose Wettbewerb der heutigen Wirtschaftsordnung“, so
Steinbach in einer Rede vor der Wiener juristischen Gesellschaft 1896, „bedroht
die Existenz zahlloser und zwar nicht bloß wirtschaftlich ganz schwacher Personen
und selbst die wirtschaftlich stärkeren scheuen dieses gefahrvolle leichenbedeckte
Schlachtfeld.“560
Die Toleranz innerhalb der Dienststellen war, so scheint es, weit gespannt, so-
dass auch sogenannte radikale, revolutionäre, linke Geister Platz fanden. Dem
offenbar gut unterrichteten Friedländer zufolge dürften auch Beamte des Typs
„Häretiker“, des Rebellen, geduldet worden sein. Am Ende der Monarchie, so be-
richtet er uns, sei es sogar unter den jüngeren Beamten Mode geworden, „rötlich
angehaucht“ zu sein. Der Jurist Anton Menger habe sie zu ganzen oder zumindest
halben Sozialisten gemacht.561 Robert Ehrhart berichtet uns von einem – von ihm
sehr geschätzten – „Freigeist“ unter den Beamten, einem Sektionsrat im Ministe-
rium für Cultus und Unterricht, den seine Kollegen den „Voltaire von Nussdorf“
nannten.562 Der „rote“ Hofrat Winkler in Schnitzlers Drama „Professor Bern-
hardi“ erscheint als kein Zufall. Es scheint in den Amtsstuben lebende Exemplare
als Vorbilder gegeben zu haben. Und höchst aufschlussreich ist die Aussage Hofrat
558 Siehe Kapitel: „Die ‚gut-bürgerliche‘ Beamtenfamilie“, „Soziale Distinktionen“, „Nationale
Illustrationen“.
559 SPITZMÜLLER, „und hat auch Ursach’“, S. 28–32.
560 Bei FRITZ, Finanzminister Emil Steinbach, S. 190.
561 FRIEDLÄNDER, Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 76.
562 EHRHART, Im Dienste, S. 114.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277