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VII. Josephinismus und Moderne um 1900
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sere Trost: Seine Seele, befreit von der Gemeinschaft des eigenen leidvollen Kör-
pers und erlöst von der Gemeinschaft der überlebenden Leiber, zu nichts nütze als
zum Leben – seine große Seele ist zu sich gekommen. Wien, 30. September 1911.“
In den Behörden Wiens dürfte es nur wenige Leser der „Fackel“ gegeben ha-
ben, denn im Eisenbahnministerium traf erst am 7. November 1911 eine „Kuratel-
anfrage“ des Bezirksgerichts Landstraße über den „angeblichen Tod“ des Beamten
Janikowski ein.599
Just im Todesjahr Janikowskis 1911 verfasste Sigmund Freud seine berühmte
psychoanalytische Studie über Daniel Paul Schrebers Autobiografie.600 Schreber
war Oberlandesgerichtsrat in Chemnitz und Leipzig und hatte bereits 1903 seine
Leidensgeschichte in psychiatrischen Kliniken in einem Buch, „Denkwürdigkei-
ten eines Nervenkranken“, publiziert. Ähnlichkeiten der Fälle sind nicht von der
Hand zu weisen. Freuds Studie erregte in Wien viel Aufsehen. Die Briefe Jani-
kowskis aus Steinhof hätten genauso Freuds Interesse finden und die Öffentlich-
keit faszinieren können, wären sie bekannt geworden.
Für die Autorin eines Buches über bürokratische Eliten wäre es verlockend,
mit einem Beamten wie Janikowski abzuschließen: Ein Beamter der Moderne
mit der künstlerischen Welt Wiens um 1900 vielfältig verbunden, ein kritischer
Intellektueller, ein Fall der viel bestaunten zeitgemäßen psychiatrischen Medizin
Wiens, ein polnisch-galizischer Beamter, der die bürgerliche gebildete Welt Wiens
repräsentierte und der – obwohl Außenseiter im bürokratischen Getriebe – an
die Tradition des aufgeklärten, gebildeten Beamtentums der josephinischen Zeit
anschloss. Doch das wissenschaftliche Publikum erwartet anderes.
599 Index der Namen im ARCHIV DES EISENBAHNMINISTERIUM Nr. 52619 /13. Der Akt
selbst wurde skartiert.
600 Zu der Studie Freuds „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiograpisch beschrie-
benen Fall von Paranoia“ siehe die Einleitung von SAMULE M. WEBER, DANIEL PAUL
SCHREBER, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hg. und eingeleitet von Samuel M. We-
ber (Frankfurt/Berlin/Wien 1973, Erstauflage 1903), S. 5–13. Herrn Dr. Hans Haider vielen Dank
für den Hinweis auf die Ausgabe von 1973.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Josephinische Mandarine
- Subtitle
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Author
- Waltraud Heindl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 336
- Keywords
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277