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III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment
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Sinn, Zweck und Ziele der Verwaltung. Nicht nur die Effizienz, sondern im Be-
sonderen die Zusammenhänge von staatlicher Weiterentwicklung und Bürokratie
standen im Mittelpunkt der Überlegungen. Der Diskurs lief – grob zusammen-
gefasst – auf die Aufgaben der Bürokratie bezüglich der gesellschaftlichen Ent-
wicklung im Staat hinaus. Der bereits vollzogene Strukturwandel der Gesellschaft,
bedingt durch die zwar in Österreich langsame, aber doch immer mehr zum Zug
gekommene Industrialisierung mit den damit verbundenen neuen gesellschaft-
lichen Formationen Bürgertum und Arbeiterschaft, das völlig Unzeitgemäße der
grundherrlichen Patrimonialgerichtsbarkeit wurden klar erkannt.
Joseph von Eötvös zum Beispiel kritisierte bereits vor 1848, dass die ungari-
sche Gesetzgebung (und Verwaltung) „nicht die ungarische Nation“, „sondern
bloß einzelne Klassen derselben“ vertrete und forderte eine Änderung der Ver-
waltung.61 Sein Kollege aus der westlichen Reichshälfte Victor Andrian-Werburg,
der bereits in den 1840er-Jahren herbe Kritik an der österreichischen Verwaltung
geübt hatte,62 ging in seiner Schrift „Österreich und dessen Zukunft“, die er 1850
anonym erscheinen ließ, mit seinen Vorschlägen sehr weit. Er postulierte mitten
in der Diskussion über die Neugestaltung der Verwaltung, dass das Hauptpro-
blem der Verwaltung in Österreich in der Abgrenzung der Kompetenzen der Zen-
tralregierung und der Kronländer liege und dass extreme Zentralisierung einen
enormen Zuwachs von Bürokratisierung und heftige Probleme mit den Nationen
der Kronländer heraufbeschwören würde.63 Als konservativer Denker sah er die
Lösung in der Stärkung der Landtage. Über die alten Landtage war allerdings die
Zeit hinweggerollt, doch in der Sache sollte er recht behalten: Das Problem einer
notwendigen, aber „richtigen“ Dezentralisierung zog sich durch das Verwaltungs-
problem Cisleithaniens und wurde noch von den Reformern der Jahrhundert-
wende immer wieder zur Sprache gebracht. Nach dem Erlass der Verfassung von
1867 rückte der deutsche (zunächst liberale, später konservative) Verwaltungsthe-
oretiker Lorenz von Stein, von Unterrichtsminister Leo Graf Thun-Hohenstein
in den frühen 1850er-Jahren an die Universität Wien berufen, die Wichtigkeit der
allgemeinen Zusammenhänge von gesamtgesellschaftlichem Wandel und Ver-
waltungsentwicklung in das Zentrum seiner Betrachtungen. Er sah nach der ers-
ten Phase der „grundherrlichen und korporativen“ Verwaltung und der zweiten
61 JOSEPH von EÖTVÖS, Die Reform in Ungarn. Aus dem Ungarischen des Freiherrn Joseph
Eötvös unter Mitwirkung des Verfassers übersetzt von Dr. H … (Leipzig 1846), S. 222.
62 ANDRIAN-WERBURG, Österreich und dessen Zukunft (siehe ##).
63 VICTOR von ANDRIAN-WERBURG (anonym), Centralisation und Decentralisation in Ös-
terreich (Wien 1850).
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277