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III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment
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Die Praxis dürfte freilich anders ausgesehen haben. Warum sonst hätte man
es für nötig gehalten, nach dem Abgang Bachs als Innenminister (1859) wiede-
rum Maßnahmen zur Disziplinierung der Beamten zu ergreifen? 1860 erfolgte die
kaiserliche Verordnung, die „die Disziplinarbehandlung der k. k. Beamten und
Diener“ regelte91 und im Großen und Ganzen nichts anderes als die Disziplinar-
strafen für Verstöße festsetzte: Rüge, Verweis, Geldstrafe, Entziehung der gradu-
ellen Vorrückung, strafweise Versetzung und Entlassung. Die Handhabung im
Alltag dürfte allerdings eher locker gewesen sein. Doch war die Absicht klar: Die
Beamten sollten an die Kandare genommen werden – und nicht nur sie, sondern
auch ihre gesamte Familie haftete bei Verstoß gegen gesellschaftliche Normen ei-
nes ihrer Mitglieder. Zum Beispiel wurde bei Ehebruch der Frau oder der Straftat
eines Kindes der Beamte als Pater familias zur Rechenschaft gezogen und eventu-
ell versetzt.92 Diese Bestimmungen blieben bis zur Dienstpragmatik von 1914 in
der Disziplinarordnung – teilweise wiederholt, teilweise gemildert – in Kraft.
Dass der Beamte über den Tod hinaus dem Staat verpflichtet war, zeigt das
Strafgesetz von 1852. Es eliminierte zwar die Bestimmung des Strafgesetzes von
1803, die bei Selbstmord eines Beamten (katholischen Vorstellungen folgend, die
Suizid als schwere Sünde einstuften) die ohnehin genügend gestraften Witwen
und Waisen durch Pensionsentzug weiter büßen ließ. Doch gleichzeitig wurde
eine säkulare Begründung für die gleiche Strategie gefunden, die gesamte Familie
in Haft zu nehmen. Es wurde nämlich festgesetzt, dass Selbstmord als „freiwillige
Dienstesentsagung“ anzusehen sei, daher der Staat keine Pension an die Hinter-
bliebenen zu zahlen habe.93
Ob in den neoabsolutistischen Jahren jenen Beamten, die den Liberalismus
1848 ersehnt hatten, der von ihnen geforderte unbedingte Gehorsam schwerge-
fallen war? Das neoabsolutistische System zeigte sich von der härtesten Seite. Sein
Kurs war geprägt von Gesetzen, die frühere Gesetze aufhoben, vor allem jene,
bei denen es um bürgerliche Freiheiten ging, Gesetze, die die Beschränkung der
Gemeindeautonomie, die Unterbindung von Neuwahlen in die Gemeindevertre-
tungen und in die Landtage aussprachen, die zu Verboten von Vereinen und zur
Verhinderung einer freien Presse führten.94
91 Vgl. Kaiserliche Verordnung vom 10. März 1860, über die Disciplinarbehandlung der k. k. Be-
amten und Diener, RGBL. Nr. 64/1860.
92 MEGNER, Beamte, S. 136.
93 Erlass des Finanzministeriums vom 30. August 1852, RGBL. Nr. 172/1852.
94 Dazu ausführlich EDUARD WINTER, Revolution, Neoabsolutismus und Liberalismus in der
Donaumonarchie (Wien 1969), S. 77–86.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277