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2. Der Alltag im bürokratischen Leben oder die kleinen großen Unterschiede
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sene Kaste „mit besonderen Regeln, Traditionen, Übungen, Anschauungen“, und
daher die Sitte der Selbstrekrutierung geißelten: Die Kinder dieser Staatsangestell-
ten, so der Verwaltungsfachmann Ankwicz, wüchsen in dieser fremden Welt auf
und würden im Grunde genommen zumeist selbst weltfremd. In einem Milieu,
„in dem selbständige Regungen fehlen, in dem das graue Alltagsleben durch das
Prisma der Beamtenwürde gesehen wird“, stünden sie hilflos da und verließen
„ihre kleine Beamtenwelt nicht“. Sie suchten „in der Anlehnung an den Staat, in
der Staatsanstellung ihr Lebensziel“.282 In diesem Zusammenhang sei die Frage
erlaubt, ob sie tatsächlich Anlehnung an den Staat oder doch eher an ihren obers-
ten Dienstherrn Franz Joseph suchten. Er war konkreter und verlässlicher als das
Abstraktum Staat mit seinen vielen nicht mehr durchschaubaren Problemen, der
vielen Beamten zunehmend nebulos und unverständlich erschienen sein musste.
Ankwiczs Beobachtungen mögen für manche, vor allem für die nicht hoch-
gestellte Beamtenwelt, zutreffend gewesen sein. Ankwicz selbst als Hofrat in den
oberen Etagen der Hierarchie angesiedelt, hätte sich freilich mit dieser angstvollen
Flucht in einen bürokratischen Kastengeist niemals identifiziert. Wir haben es in
diesem Fall mit dem Blick des höheren Beamten auf die unteren Ränge zu tun.
Johann Ankwicz gehörte zu den hohen Staatsdienern, die ein Sozialprestige errun-
gen hatten, das mit dem von ihm zitierten „grauen Alltagsleben“ und der „kleinen
Beamtenwelt“ nichts gemein hatte. So wie für viele andere nicht! Anders wäre es
nicht zu erklären, dass gelehrte und hoch geachtete Universitätsprofessoren in den
Staatsdienst überwechselten oder auch beide Ämter, den Staats- und den Univer-
sitätsdienst, versahen und stolz den Titel Hofrat vor dem Universitätsprofessor
trugen. Als nur einige wenige Beispiele wären zu nennen: der Sozialreformer, Be-
amte im Justizministerium und schließlich Finanzminister Emil Steinbach; der
sozialliberale Reformer, Beamte im Justizministerium und Politiker Joseph Maria
Baernreither; der schon erwähnte Altphilologe, später Sektionschef und Minister
für Cultus und Unterricht, Wilhelm Ritter von Hartel; der Professor des Kirchen-
rechts, später Sektionschef und Ministerpräsident Max Ritter von Hussarek-Hein-
lein; der Professor für klassische Philologie an der Universität Lemberg Ludwik
�wikliński, der in das Ministerium für Cultus und Unterricht wechselte und zum
Sektionschef, später im Ersten Weltkrieg zum Minister für Cultus und Unterricht
ernannt wurde.283 Staatsdienst und Wissenschaft waren im Verfassungsstaat eine
282 ANKWICZ, Die europäische Beamtenfrage, S. 87 und 93 f.
283 Zu Steinbach vgl. FRITZ, Finanzminister Emil Steinbach; zu Joseph Maria Baernreither siehe
JOSEF REDLICH, Einleitung zu: JOSEPH M. BAERNREITHER, Fragmente eines poli-
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277