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V. Das soziale Umfeld
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Es wäre vermessen, an dieser Stelle eine Evaluierung der Aktenerledigung in
der Zeitspanne von 1848 bis 1914 vorzunehmen. Die Frage, ob die Behandlung
menschlicher Probleme, die in Akten gegossen wurden, schnell oder langsam,
mehrheitlich positiv oder mehrheitlich negativ, gerecht oder ungerecht, adäquat,
den Umständen entsprechend oder zu kleinlich, zu großzügig oder etwa gar
schlampig erledigt wurden, muss offenbleiben. Zu zahlreich waren die Behörden
und die Departements, in die sie untergliedert waren, zu groß die Unterschiede
zwischen ihnen. Immerhin hing es maßgeblich vom jeweiligen Amtschef und den
agierenden Beamten ab, dem die Akten zugeteilt waren, ob menschenfreundlich
oder menschenverachtend entschieden wurde.
Von den Beamtenmemoiren gewinnen wir den Eindruck, der jeweilige Autor
habe nur im Allgemeininteresse, schnell und zügig, gerecht und menschenfreund-
lich, gearbeitet. Wer würde das nicht von sich behaupten? Allerdings sind man-
che Absonderlichkeiten auffällig, vor allem wenn es um Kontrollen finanzieller
Natur ging. Diese konnten nicht ausführlich genug sein und bedeuteten daher
einen unbeschreiblichen Arbeitsaufwand für Beamte. Ein solches Beispiel bietet
die Subventionierung der Schifffahrtsgesellschaft Triester Lloyd.326 Um mit den
internationalen Schifffahrtsgesellschaften wettbewerbsfähig zu sein, wurde für
jede Fahrt ein Teil der Suezkanalgebühren rückvergütet und für jede zurückge-
legte Meile je nach Länge der Fahrt Meilengelder bezahlt, allerdings nur bei Ein-
haltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeiten. War das nicht der Fall, wurde
ein Teil des Meilengeldes – ebenfalls je nach Länge der Linie – abgezogen. Natur-
katastrophen, Schäden an der Maschine, Streiks der Hafenarbeiter etc. blieben
straffrei, wenn sie mithilfe sogenannter „Stundenpässe“, in denen alle Details der
Ankunfts- und Abfahrtszeiten in diversen Häfen eingetragen waren, gerechtfertigt
werden konnten. Die Überprüfung oblag in erster Instanz der k. k. Seebehörde
in Triest. Das reichte der Wiener Zentralbürokratie nicht. Sämtliche Aktenunter-
lagen hatten dem Handelsministerium in Wien weitergeleitet zu werden, das die
Kontrolle der Kontrolle vornahm – in Kopie allerdings ergingen diese auch an das
Finanzministerium, das die Summe der Subventionierung für den Triester Lloyd
für den Staatsvoranschlag mit dem Handelsministerium vereinbart hatte. Eine
„hohe“ und zwei „höchste“ Behörden waren so mit der Kontrolle einer nicht sehr
bedeutenden Summe für Meilengelder befasst. Der Fall einer Verspätung beweist,
dass es damit nicht getan war, sondern dass jedes der beiden Wiener Ministerien,
das Handels- und das Finanzministerium, noch eigene Ermittlungen anstellte,
326 Zum Folgenden KLEINWAECHTER, Der fröhliche Präsidialist, S. 84–90.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277