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V. Das soziale Umfeld
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Sollte der seit Generationen praktizierte schriftliche Kanzleistil nicht dann und
wann zu sturen Regeln mutiert sein, sollte diese Starrheit nicht gemeinsam mit
dem Imperativ der Unpersönlichkeit auf empfängliche Beamtenseelen abgefärbt
haben? – Bis, wie bereits dargelegt, eine junge Generation juristisch und technisch
gut ausgebildeter beamteter Fachkräfte, die sich dem Amtsschimmel nicht fügen
wollten, heftige Kritik am Stil, der eine unterwürfige Mentalität des Dienens
verriet, zu üben begann.332 Doch den allgemeinen Zeitgeist der Bürokratie störte
dieser Kanzleistil offenbar nicht. Die Kanzleisprache war spätestens seit dem 18.
Jahrhundert in der Bürokratie fest verankert und in der Bevölkerung bestens be-
kannt. Sie entsprach vielleicht nicht mehr ganz dem Usus des angehenden 20.
Jahrhunderts, doch wir finden heute noch Spuren der typischen Amtssprache in
den Gesetzestexten.
Hatten die Konzeptsbeamten einmal Amtsstil und Kanzleisprache in einem
sicher nicht einfachen Prozess erlernt, so dürfte sich eine Liebe zu dieser für unsere
Begriffe gewundenen, unpersönlichen Sprache entwickelt haben. So erzählt uns
der mit dem rebellischen Olszewski gleichzeitig dienende Robert Ehrhart, dass
er schon in den ersten Jahren seiner Amtszeit, in den 1890er-Jahren, die „Poesie
der Akten“ entdeckt habe.333 War es diese Kanzleisprache, durch die sich Ehrhart
zu dieser enthusiastischen Bezeichnung hinreißen ließ? Ohne Zweifel hatte die
Kanzleisprache, abgesehen von den Floskeln gegenüber der Beamten- und Behör-
denhierarchie, eine bestimmte Wortwahl zu treffen, auf einen bestimmten Fluss
der Sprache zu achten. Vor allem aber hatte sie in Wort, Grammatik und Stil Ob-
jektivität zu beweisen, vielleicht auch nur vorzutäuschen, um das Amt in jedem
Fall unangreifbar zu machen.
Claudio Magris machte die überraschende Beobachtung, dass Johann Wolf-
gang von Goethe sich in seinen Karlsbader Jahren und nach der Bekanntschaft
mit österreichischen Persönlichkeiten insbesondere in seinen Briefen des „unper-
sönlichen Stils der Kanzleisprache“ der habsburgischen (bürokratischen) Kultur
zu bedienen begonnen habe, „dieser Gerichtssprache“, wie Magris bemerkt, die
„eifersüchtig die eigene Intimsphäre hinter dem Schild korrekter, traditioneller
Formen und höfischer Graduierung verbarg“.334 Sollte die Wahrnehmung Magris’
übertrieben sein?
332 Der bereits erwähnte Olszewski bietet uns ein leuchtendes Beispiel, siehe Kapitel „Generatio-
nenkonflikte“; auch VOŠALÍKOVÁ, Einleitung zu Von Amts wegen, S. 34 f.
333 EHRHART, Im Dienste, S. 107 f.
334 CLAUDIO MAGRIS, Der habsburgische Mythos in der Literatur (Salzburg 1966), S. 65.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277