Seite - 201 - in Josephinische Mandarine - Bürokratie und Beamte in Österreich
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4. Der private Alltag – das symbolische Kapital
und Gabel wie Kanonenrohre vor der Lafette starrten, und die eingerollten Ser-
vietten in ihren Ringen waren aufmarschiert wie eine Armee, die ihr General in
Stich gelassen hat.“353 Bürgerliche Strenge steht gegen den ebenfalls bürgerlichen
Topos der Gemütlichkeit, von der im Pädagogenhaushalt jede Spur fehlt!
Wollen wir den (groß)bürgerlichen Standard der bürokratischen Eliten an den
Essgewohnheiten messen, so sind wir leider überwiegend auf Spekulationen ange-
wiesen, denn die Mitteilungen der Beamten über ihre Ernährungsgewohnheiten
sind mangelhaft. In der schönen Literatur begegnen wir allerdings immer wieder
Erzählungen über die angebliche Vorliebe der Beamten für gekochtes Rindfleisch,
in der feineren Form war es der Tafelspitz, mit Kartoffeln, Kren und Gemüse, die
die braven Staatsdiener angeblich ihrem Allerhöchsten Dienstherrn, dem Kaiser,
abgeschaut hatten, der diese Speise Tag für Tag zu sich genommen haben soll. Mit
besonderer Feierlichkeit wurde das Sonntagsessen zelebriert.354 Die Verbindung
des Verzehrs des Tafelspitzes am Sonntag als Ausdruck der Kaisertreue findet sich
etwa in Joseph Roths Beschreibung der allsonntäglichen Mahlzeit des Bezirks-
hauptmanns Trotta. Sie ist wohl die berühmteste und bekannteste Darstellung.355
Es dürfte sich tatsächlich nicht nur um eine literarische Erfindung gehandelt ha-
ben. Auch der Hofgerichtsrats-Großvater in Böhmen, so berichtet uns Ludmila
Matiegková, aß täglich zu Mittag gekochtes Rindfleisch.356 Fleisch war teuer und
wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts teurer. Der Verbrauch von Fleisch wird im
Allgemeinen als Wohlstandsindikator gesehen.357 Rindfleisch zählte damals im
Gegensatz zu heute zu den billigen Fleischsorten (dies lag an den leichteren Trans-
portmöglichkeiten von Rindvieh, das im Gegensatz zu Schweinen durch das Land
getrieben werden konnte). Deutlich ablesbar ist dies am Fleischverbrauch. Lag der
Rindfleischverbrauch in Wien um 1800 noch bei 52 kg pro Kopf im Jahr, so war
er im Jahr 1910 auf 32,6 kg pro Kopf abgesunken. Der Verbrauch von Schweine-
fleisch wurde für 1800 mit 10,6 kg pro Kopf im Jahr – auf ein Fünftel des Rind-
fleischverbrauchs – beziffert, er war im Gegensatz zum Rindfleisch im Jahr 1910
353 ROBERT MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften (Hamburg 1978), S. 1065.
354 VOŠALÍKOVÁ, Einleitung zu Von Amts wegen, S. 31 f.
355 JOSEPH ROTH, Radetzkymarsch (Erstausgabe Berlin 1932, zitiert nach Berlin und Weimar
1972), S. 36.
356 MATIEGKOVÁ. In: VOŠALÍKOVÁ, Von Amts wegen, S. 310; VOŠALÍKOVÁ, Einleitung zu:
Von Amts wegen.
357 Zum Folgenden ROMAN SANDGRUBER, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Kon-
sumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert
(= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 15, Wien 1982), S. 153, 159–162 und 206.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277