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1. Literarische Inszenierungen – Fremdbilder
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wichtig geworden. Die österreichische Literatur war im Kern ein Produkt des Bü-
rokratisierungsprozesses. Die meisten Autoren des josephinischen Jahrzehnts und
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Beamte gewesen,472 für die „das Amt“
den notwendigen Brotberuf bildete, die Berufung aber Literatur und Poesie wa-
ren. Die „Affinität zwischen Beamtentum und Literatur“ hat also eine lange Tradi-
tion, die auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortgesetzt wurde. Hans
Perthaler, Friedrich von Mayr, Emil Steinbach (und wahrscheinlich noch viele
andere) schrieben, wie sie selbst bekannten, Gedichte.473 Allerdings hatte sich die
Daseinsform dieser Staatsdiener umgekehrt: An erster Stelle stand nun der Brot-,
nämlich der Beamtenberuf, die Poesie bildete das private Vergnügen.
Daher ist es nicht nur legitim, sondern geradezu erforderlich, dass auch in his-
torischen Studien die einschlägige Literatur als Quelle zum Zug kommt. In die-
sem Zusammenhang wird freilich immer wieder die zweifelnde Frage erhoben,
wieweit die „schöne Literatur“ die Wirklichkeit der Beamtenwelt tatsächlich wie-
dergibt. Die oben genannten Literaturwissenschaftler, Magris, Schmidt-Dengler,
Zelger, sind sich einig, dass die Darstellung der Bürokratie in der Literatur keine
Verklärung oder Trübung des Forschungssujets darstellt, sondern dass die Erzäh-
lungen, Novellen, Dramen, Romane – jenseits von allen theoretischen Überlegun-
gen der Sozial-, Politik- und Geschichtswissenschaftler – sehr wohl die Struktur
der alltäglichen Praxis in Amt und Privatleben beschreiben, dass somit die dichte-
rischen Dokumentationen eine Bereicherung der Bürokratieforschung darstellen.
Die Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky meint in diesem Zusammenhang mit
Recht, dass die Literatur die gesamte „bürokratische Kultur“ offenbare, „den ge-
samten Lebenszusammenhang, die Lebensweise und Arbeitsformen der Beamten,
alles Emotionale und Sinnliche, Unvorhergesehene zwischen all den einengenden
formalen Abläufen und Strukturen“.474 Dichter und Schriftsteller wollen gelesen
werden, ihre Geschichten sollen das Publikum interessieren, sie werden daher
möglichst dramatische Inszenierungen wählen, die manchmal verglichen mit der
Realität übertrieben erscheinen mögen. Das mindert nicht den Wert der Literatur
als Quelle für Historiker/innen.
Im Allgemeinen können wir davon ausgehen, dass Literaten sensible Beob-
achter des Lebens sind. Für gelernte Historikerinnen und Historiker ist es eine
472 Siehe HEINDL, Gehorsame Rebellen, im Besonderen Kapitel: Staatscomedianten, S. 326–331.
473 Siehe auch Kapitel „Andersgläubige, Sozialisten und Künstler“.
474 EVA KREISK�, Bürokratie und Politik. Beiträge zur Verwaltungskultur in Österreich, Band 1.2
(Wien 1986), S. 613; zit. auch von ZELGER, Das ist alles viel komplizierter, S. 14.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277