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2. Selbstinszenierungen – Selbstzeugnisse
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schenderweise die Beamtenqualitäten des viel umstrittenen Sieghart, zu dessen
erbittertsten Kritikern, wie erwähnt,501 der Statthalter von Niederösterreich Graf
Kielmansegg zählte. Eine „eminence grise“ wäre er nicht gewesen, nimmt Ehrhart
den Paradebeamten Sieghart in Schutz, doch in einem Punkt hätten ihm seine
Gegner mit Recht misstraut, sie hätten „in seiner Grundeinstellung den Mangel
an konservativem Einschlag“ gespürt. „Jenes wehmütige Gefühl“, so Ehrhart, „wie
es bei Menschen von solchem Einschlag mitschwingt, so oft sie ein Stück des
gewohnten Weltbildes verschwinden sehen, auch wenn sie die Änderung an sich
für zweckmäßig und notwendig halten.“ Sieghart wäre „Neues mindestens ebenso
lieb wie Altes“ gewesen, „er war nicht konservativ und konnte es nicht sein, denn
er hatte keine Tradition. Der Erbe eines Gutsbesitzers, der Offizierssohn, der
Abkömmling einer alten Beamtenfamilie ist irgendwo fest verwurzelt. Von der
kleinen Kantorsfamilie zum Amtsgewaltigen spannt sich keine Brücke.“502 Es war
nicht neu: Sieghart wurde von Ehrhart in der Beamtenwelt wegen seiner jüdi-
schen Herkunft als Außenseiter empfunden. Die entscheidende Veränderung war,
dass gerade dieser unabhängige Zugang von ihm als neue Qualität für die Büro-
kratie der ausgehenden Monarchie bezeichnet wurde. Demnach war der ideale
Beamte der Jahrhundertwende nicht nur patriotisch, Kaiser und Staat (in dieser
Reihenfolge) treu ergeben, wesentlich war, dass er nicht „über die Grenze“ – nach
Deutschland – schielte, weder für eine Nation noch für eine politische Bewegung
Partei ergriff, dass er über Anpassungsfähigkeit und damit über Einfluss verfügte,
nicht wertkonservativ war wie offenbar der Großteil der hohen Bürokratie der
Jahrhundertwende, die aus der alteingesessenen Gesellschaft kam.
Drei verschiedene Urteile über das Idealbild des Staatsdieners im Laufe von
mehr als einem halben Jahrhundert, das aber unwandelbar an den traditionel-
len Beamtentugenden festhielt. In der Krisenzeit der späten Monarchie trat al-
lerdings die Wertschätzung des politischen Einflusses der Bürokratie, kombiniert
mit gleichzeitiger Überparteilichkeit, hinzu. Es scheint, dass damit angesichts des
politischen Versagens in der Krise das Bedürfnis der Zeit nach dem Beamten als
unparteilichem Richter über Nationen und Parteien evident wird.
Als aufmerksame Leserin musste es mir bei der Lektüre der autobiografischen
Zeugnisse doch ein wenig verdächtig erscheinen, dass alle Karrieren, von denen die
Rede war, allein den ausgeprägten Beamtentugenden und auffallenden bürokrati-
schen Fähigkeiten ohne jegliche Hilfe von Verwandtschaft, Familie, (politischen)
501 Siehe Kapitel „Soziale Distinktionen“.
502 EHRHART, Im Dienste, S. 138.
Josephinische Mandarine
Bürokratie und Beamte in Österreich
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Josephinische Mandarine
- Untertitel
- Bürokratie und Beamte in Österreich
- Autor
- Waltraud Heindl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78950-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 336
- Schlagwörter
- Bürokratie, Beamte, Österreich, Österreich-Ungarn, nationale und politische Identitäten, Loyalitäten, Alltagskultur, Frauen im Staatsdiens, Image
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- I. Bürokratie und Beamte – eine Spurensuche Versuch einer Einführung 17
- II. 1848 – ein Wendepunkt für die österreichische Bürokratie? 35
- III. Die Bürokratie und das neoabsolutistische Experiment 45
- 1. Diskussionen um die bürokratische Neugestaltung 45
- 2. Neue Strukturen und Arbeitsfelder. Die Liquidierung der Revolution auf dem Verwaltungsweg 47
- 3. Beamtenethos und Beamtenideal der neuen Ära 54
- 4. Ziviler Ungehorsam und staatliche Disziplinierung 60
- 5. Ausbildung, ökonomische Lage und sozialer Status vor 1867 66
- IV. Beamtentum und Verfassungsstaat – ein Neubeginn? 85
- 1. Wandel der politischen Strukturen 85
- 2. Staatsdiener – Staatsbürger. Neue politische Rechte – neue politische Probleme 87
- 3. Widersprechende Loyalitäten: zwischen Kaiser und Staat – Nation/en und Partei/en 90
- 4. Parteipolitische Konfliktszenen 99
- 5. Nationale Illustrationen 106
- 6. Traditionelle Karrieremuster gegen politischen Protektionismus 121
- 7. Soziale Privilegierung und dienstliche Disziplinierung: Streiflichter zu den ökonomischen und sozialen Verhältnissen 1873–1914 131
- 8. Die ungewohnte Neue: Frauen im Staatsdienst 147
- 9. Macht und Ohnmacht. Direkte und indirekte Einflussnahme 154
- 10. Generationenkonflikte um 1900 160
- V. Das soziale Umfeld 165
- VI. Inszenierungen 235
- VII. Josephinismus und Moderne um 1900 253
- VIII. Was blieb? – Anstatt eines Schlusswortes 277