Seite - 68 - in TYROLIS LATINA - Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
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68 Von der Tiroler Landeseinheit bis zum Tod Kaiser Maximilians
I. (1519)
Tiberinus’ Brief
nach Brescia Texte zum Einsatz. Unter der lat. Simonliteratur ist neben der Dichtung in ge-
ringerem Ausmaß auch die Prosa vertreten (vgl. hier S. 118–119). Im Barock war
Simon ein intensives literarisches Nachleben beschieden, das sich zwar v.a. in den
Volkssprachen abspielte, aber auch noch eine ganze Reihe lat. Texte hervorbrachte
und in einer Epode Jakob Baldes kulminierte (vgl. hier S. 397, 444, 568). Im wei-
teren Sinne lassen sich auch Texte über das nach dem Vorbild Simons erfundene
Märtyrerkind Anderl von Rinn und die Anfänge der wissenschaftlichen Auseinan-
dersetzung mit Simon im 18. Jh. als literarische Simonrezeption bezeichnen.2
Inhaltlich hängt die gesamte literarische Tradition in hohem Maße von der ers-
ten einschlägigen Publikation ab, einem schon im April 1475 verfassten und erst-
mals am 19. 6. dieses Jahres in Rom gedruckten Brief des bischöflichen Leibarztes
Johannes Matthias Tiberinus an die Einwohner Brescias, der seinerseits weitgehend
auf Autopsie, in Trient kursierenden Gerüchten und Gerichtsakten fußt. Die Ge-
schichte, die dieses Dokument erzählt, sei hier vorweg zusammengefasst :
In Trient leben die drei jüdischen Familien des Tobias, des Angelus und des Samuel sowie
der alte Moses. In der Karwoche des Jahres 1475 versammeln sich alle Juden bei Samuel,
in dessen Haus sich auch die Synagoge befindet, und beschließen, ein Christenkind zu
fangen und zu opfern. Bei einer zweiten Zusammenkunft am folgenden Tag versucht Sa-
muel vergeblich, seinen Diener Lazarus zum Fang eines Knaben zu überreden. Statt seiner
wird bei einem dritten Treffen am Donnerstag Tobias, der als Arzt auch unter den Christen
verkehrt, zur Tat verleitet. Er macht sich auf die Suche, findet den kleinen Simon, nimmt
das Kind an der Hand, führt es mit sich fort und schleppt es schließlich ins Haus des
Moses, wo es ins Schlafzimmer gesperrt wird. Die Eltern suchen derweil vergeblich nach
dem Knaben ; die hereinbrechende Nacht verhindert weitere Nachforschungen. Die Juden
bringen Simon nun unter Führung des Moses in das Vorzimmer von Samuels Haus, das ei-
nen Durchgang zur Synagoge besitzt. Sie reißen ihm die Kleider vom Leib und würgen ihn
so stark, dass er nicht mehr schreien kann. Mit einer Zange wird Fleisch aus seiner Wange
sowie vom Unterschenkel weggerissen, er wird in Kreuzigungsposition aufgestellt und mit
Nadeln gespickt. Währenddessen stoßen die Juden Schmähungen gegen das Christentum
aus. Als das Kind stirbt, brechen sie in Jubel aus und begeben sich dann zum Pessachmahl,
während sie ihre Diener die Leiche im Keller zwischen Weinkrügen verstecken lassen.
Am Karfreitag wird – nun auch mithilfe städtischer Bediensteter – weiter nach Simon ge-
forscht. Am Samstag legen die Juden Simons Leichnam in der Synagoge auf den Almemor,
2 Zum Simonprozess insgesamt grundlegend ist Treue 1996. Ein Überblick über die literarische Pro-
duktion in seinem Gefolge, ihre Autoren, Entstehung, Verbreitung und Funktion findet sich dort
285–348 (vgl. besonders 285–308 [Drucke], 340–348 [Hs.]), ein Abriss des literarischen Nachle-
bens 8–9 und 503–511. Speziell zur Symonis des Ubertinus Pusculus vgl. auch Korenjak 2010.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593