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168 Von der Tiroler Landeseinheit bis zum Tod Kaiser MaximiliansÂ
I. (1519)
Leben und Werk ob und wie man Gott als das letzte Prinzip allen Seins erkennen kann ; wie die Welt
und der Mensch in ihrem Bezug auf dieses letzte Prinzip beschaffen sind. Damit ist
Cusanus dem Begriff antiker Naturphilosophie näher als dem moderner Theologie,
welche dieses Feld gern den Naturwissenschaften überlässt. Deshalb wird er in dieser
Literaturgeschichte hauptsächlich der Philosophie zugeteilt. Zu einigen Werken im
Zusammenhang mit Cusanus’ Streit mit Herzog Sigmund vgl. hier S. 203–206.
Als Nicolaus Cusanus FĂĽrstbischof von Brixen wurde, hatte er schon ein be-
wegtes Leben hinter sich. Beim Studium des Kirchenrechts in Padua lernte er den
italienischen Frühhumanismus kennen und schloss mit führenden Köpfen dieser
Bewegung Freundschaft. Auf seiner Jagd nach Hs. fand er zwölf bisher unbekannte
Komödien des Plautus. Beim Konzil von Basel, wo die alleinige Entscheidungs-
gewalt des Papstes zur Debatte stand, engagierte er sich an vorderster Front und
wandelte sich dabei vom Konziliaristen zum Papalisten. Als Vertreter des Papstes
reiste er nach Konstantinopel, um den oströmischen Kaiser und den Patriarchen
zur Kirchenunion zu bewegen. Danach unternahm er, stets in päpstlicher Mission,
zahlreiche Legationsreisen im Reichsgebiet. Neben seinen kirchenpolitischen Ge-
schäften sann Cusanus auf Großes in der Philosophie. 1440 beendete er sein be-
kanntestes Werk, De docta ignorantia („Über die belehrte Unwissenheit“). Darin
forderte er eine grundlegende Reform des Wissens, das sich zuallererst ĂĽber seine
eigenen Grenzen klar sein müsse und somit zur „belehrten Unwissenheit“ werde.
Gott sei grundsätzlich nicht erkennbar, menschliche Erkenntnis immer nur appro-
ximativ. Auch das fĂĽr die weitere Philosophie des Cusanus entscheidende Konzept
der coincidentia oppositorum („Zusammenfall der Gegensätze“), nach dem sich ein-
ander widersprechende Sätze auf einer höheren Stufe aufheben, kam hier erstmals
zum Tragen. Papst Nikolaus V., ein Humanist und Freund des Cusanus, erhob
ihn 1450 zum Kardinal und zum FĂĽrstbischof von Brixen.2 Damit hatte Cusanus
einen Höhepunkt seiner kirchenpolitischen Karriere erreicht. Ein Fürstbischof ver-
sah schlieĂźlich nicht nur ein geistliches Amt, sondern befand sich im erlauchten
Kreis der Reichsfürsten und verwaltete als weltlicher Herr seine Besitzungen – die
Realität in den Tiroler Bergen vergönnte Cusanus freilich die erhoffte Machtfülle
nicht. Vorerst trat er sein Amt aber noch gar nicht an, sondern genoss zunächst
noch ein Jahr der Erholung am päpstlichen Hof in Rom und in den Marken. Hier
entstanden seine sogenannten Idiota-Schriften, Idiota de sapientia, Idiota de mente
2 Zu Cusanus’ Zeit in Tirol vgl. Baum 1983 ; Hallauer 2002 ; zu den in Tirol entstandenen Werken
außerdem Euler 1995 und Flasch 1998. Die maßgebliche Edition sind die Opera omnia 1932–
2010. Dieser Gesamtausgabe folgen auch die hier gegebenen Zitate einzelner Werke, und zwar
– wo möglich – in der Form : Kapitelnummer (in römischen Zahlen), Textabschnittsnummer, Zei-
lennummer. Cusanus’ Predigten zitiere ich in der Form : Predigtnummer, Textabschnittsnummer,
Zeilennummer.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593