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Philosophie 169
Fürstbischof
von Brixen
und Idiota de staticis experimentis („Der Laie über die Weisheit“, „Der Laie über
den Geist“, „Der Laie über Versuche mit der Waage“). Es handelt sich um drei
Unterhaltungen, in denen bewusst ein „Ungebildeter“ – auch so kann man idiota
übersetzen – das Programm eines neuen Wissens vorstellt, eines Wissens, das sich
nicht auf Büchergelehrsamkeit, sondern auf unbefangenes Denken und empirische
Forschung stützt. Die Erkenntniszuversicht von Cusanus ist seit De docta ignoran-
tia deutlich gewachsen. Im Dezember 1450 schickte Nikolaus V. Cusanus auf eine
große Legationsreise durch Deutschland, deren Ziel u.a. die Durchführung von
Klosterreformen war. Seit mehreren Jahrzehnten waren schon diverse Reformbewe-
gungen wie die berühmte Windesheimer Reform der Brüder vom gemeinsamen Le-
ben auf den Plan getreten, um das herabgekommene Ordensleben des Spätmittel-
alters wieder auf ein gewisses Niveau zu bringen. Nun schrieb sich auch die wieder
erstarkte Papstkirche das Unternehmen auf ihre Fahnen. Cusanus knüpfte während
dieser Zeit besonders gute Beziehungen zu den reformfreudigen Klöstern Tegernsee
und Melk. Sie wurden zu Zentren seiner Erneuerungsbemühungen und verbreite-
ten auch sein philosophisches Werk.
Schließlich trat Cusanus sein Brixner Bischofsamt im April 1452 an. Bei seiner
Ernennung war der Papst ausdrücklich auf einen tüchtigen Mann bedacht, der
die theoretisch vorhandenen, praktisch aber längst verlorenen weltlichen Ansprü-
che der Brixner Kirche gegenüber dem Tiroler Landesherrn, Herzog Sigmund dem
Münzreichen, behaupten konnte. Man hat diese Mission in der modernen Literatur
auch als Himmelfahrtskommando bezeichnet – zu Recht, wenn man die folgende
Entwicklung überschaut. Als Brixner Fürstbischof machte Cusanus nämlich die
konfliktreichste Periode seines Lebens durch. Schon die Vorzeichen standen nicht
gut. Der Papst bestimmte Cusanus 1450 zum Bischof, obwohl das Brixner Domka-
pitel wenige Tage zuvor bereits einen Kandidaten gewählt hatte, nämlich Leonhard
Wiesmayer, den Kanzler Sigmunds. Cusanus konnte sich jedoch 1451 in Verhand-
lungen mit dem Kaiser, Herzog Sigmund und Wiesmayer einigen. Dieser wurde
später Bischof von Chur. Vor den heftigen Konflikten, die noch folgen sollten, wa-
ren Cusanus noch einige schriftstellerisch ungemein produktive Monate vergönnt.
Im Herbst 1453 verfasste er nicht weniger als vier Werke, davon zwei größere. Als
Reaktion auf den Fall Konstantinopels entstand De pace fidei („Über den Frieden
des Glaubens“), in dem Cusanus für eine – freilich christlich geprägte – Ökumene
der Weltreligionen eintritt. Nach den mathematisch-theologischen Schriften De
mathematicis complementis („Über mathematische Ergänzungen“) und De comple-
mentis theologicis („Über theologische Ergänzungen“) beendete er auch noch De
visione Dei („Über das Sehen Gottes“), eine für die Mönche vom Kloster Tegernsee
bestimmte Stellungnahme zur damals intensiven Diskussion um die ‚richtige‘ Art
der Mystik.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593