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Philosophie 175
Stil
von ihm immer schon angeblickt ist. In unserem Geist haben wir Anteil an Gottes Sehen.
Wenn sich der Denkende seiner selbst bewusst wird, hat er auch Gott erkannt. So scheint
dieser dem Menschen selbst zuzuflüstern : Sis tu tuus et ego ero tuus (VII,25,13–14 : „Sei du
dein, und auch ich werde dein sein“). Gott ist Sehen und Gesehenwerden zugleich. Diese
Einheit von Subjekt und Objekt im Erkennen Gottes ist ein zentraler Gedanke des Werks.
Ausgehend von der Sehmetapher werden schwierigere Probleme der Bestimmung Gottes
erörtert, u.a. das Verhältnis des Teils zum Ganzen oder der Andersheit zur Gleichheit. Den
Abschluss bilden Überlegungen zur Trinität und zur Inkarnation.
De visione Dei ist das anschaulichste von Cusanus’ philosophisch-theologischen
Werken. Es geht von einem konkreten Objekt aus und führt von diesem weiter zum
Spekulativen. Auf die komplizierte mathematische Symbolik der philosophischen
Frühwerke wird ganz verzichtet. Der Ausdruck ist im Vergleich zum übrigen Werk
einfach und flüssig. Dazu trägt v.a. eine in Cusanus’ Schriften einzigartige ‚Erzähl-
situation‘ bei. Zunächst spricht Cusanus die Klostergemeinschaft als Ganzes an.
Danach wendet er sich an einen einzelnen frater contemplator, einen „betrachtenden
Bruder“ (IV,9,1–11) :
Accede nunc tu, frater contemplator, ad dei eiconam, et primum te loces ad orientem, deinde ad
meridiem ac ultimo ad occasum ; et quia visus eiconae te aeque undique respicit et non deserit,
quocumque pergas, in te excitabitur speculatio provocaberisque et dices : Domine, nunc in hac
tua imagine providentiam tuam quadam sensibili experientia intueor. Nam si me non deseris,
qui sum vilissimus omnium, nusquam cuiquam deeris. Sic quidem ades omnibus et singulis,
sicut ipsis omnibus et singulis adest esse, sine quo non possunt esse.
Tritt nun du zum Bild Gottes heran, betrachtender Bruder, und wende dich zuerst nach
Osten, dann nach Süden und schließlich nach Westen. Weil der Blick des Bildes dich von
überall gleichermaßen ansieht und dich nicht verlässt, wohin du auch weitergehst, wird
eine Betrachtung in dir aufkommen, du wirst aufgerufen werden und wirst sprechen :
„Herr, in diesem deinem Bild schaue ich jetzt deine Voraussehung in einer gleichsam sinn-
lichen Erfahrung an. Denn wenn du mich nicht verlässt, der ich der Niedrigste von allen
bin, dann wirst du niemals irgendjemandem fehlen. So nämlich bist du bei allen und bei
den einzelnen, wie bei allen und den einzelnen das Sein ist, ohne das sie nicht sein können.“
Die hier begonnene Anrede des Bruders an Gott wird bis zum Ende beibehalten.
Dass sie dem Bruder von Cusanus in den Mund gelegt wird, ist bald vergessen.
Der Leser beginnt sich schnell mit dem vor Gott sprechenden Ich des Bruders zu
identifizieren. Dieser trägt eine philosophische Meditation vor, die häufig in ein
Gebet oder eine hymnische Preisung Gottes übergeht. Die philosophische Suche
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593