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182 Von der Tiroler Landeseinheit bis zum Tod Kaiser MaximiliansÂ
I. (1519)
Cusanus’ Sprache
Paulus Ricius Der Fall beweist, dass Cusanus im Tiroler Geistesleben des frĂĽhen 16. Jhs. gekannt
und geschätzt wurde. Seine Autographen waren mittlerweile sehr wertvoll gewor-
den. So wie Cusanus vormals in deutschen Bibliotheken auf die Jagd nach antiken
Hs. gegangen war, wurden seine eigenen Hs. nun von humanistisch Interessierten
gejagt.
Cusanus ist noch deutlich von dem zu seiner Zeit aufkommenden klassizisti-
schen Stil der italienischen Humanisten entfernt. Wie er in der Vorrede zur 1433
entstandenen Concordantia catholica selbst sagt, fĂĽhlte er sich in der Latinitas als
Deutscher schon von seiner Nationalität her benachteiligt. Noch hatte der Huma-
nismus nördlich der Alpen nicht Fuß gefasst. Unklassische Konstruktionen und
Formen sind bei Cusanus keine Seltenheit.5 Andererseits ist sein Stil in der Regel
ĂĽberhaupt trocken und dicht. Viele harte FĂĽgungen gehen wohl nicht auf grund-
sätzliche sprachliche Inkompetenz zurück, sondern auf die Vernachlässigung der
Form zugunsten des Inhalts. Das kolloquiale Setting vieler Werke, sei es als Dialog,
sei es als Ansprache an den Leser oder Ähnliches, trägt hingegen zur Auflocke-
rung bei. Ein groĂźes Anliegen war Cusanus seine philosophische Terminologie, in
der er sich um größtmögliche Schärfe bemühte und sich auch sprachschöpferisch
betätigte. So bezeichnete er Gott u.a. als possest („Können-Ist“) oder als non aliud
(„Nicht-Anderes“). Im Einklang mit seinen philosophischen Grundgedanken er-
weist sich Cusanus als Meister des Oxymorons und der paradoxen Formulierung :
Man vergleiche nur die zentralen und vielen Neuprägungen zugrunde liegenden
Begriffe von der „belehrten Unwissenheit“ (docta ignorantia) und dem „Zusam-
menfall der Gegensätze“ (coincidentia oppositorum).
Während Cusanus heute ein geistesgeschichtlicher Fixstern ist, fiel der eingangs
neben ihm erwähnte Paulus Ricius (ca. 1480–1542) bei einer breiteren Öffentlich-
keit dem Vergessen anheim. Beide Männer griffen in platonisierender Art nach dem
Einen und Ganzen hinter der Welt der Erscheinungen, Ricius tat dies aber wesent-
lich spekulativer und hermetischer als Cusanus – was auch einer der Gründe ist,
warum ihm die Geltung des letzteren versagt blieb. Dabei zog Ricius’ Synthese von
jĂĽdischer Esoterik, Christentum und aristotelisch-(neu)platonistischer Philosophie
im Tirol des 16. Jhs. wesentlich mehr intellektuelle Aufmerksamkeit auf sich als die
Werke des Cusanus, was freilich auch daran liegt, dass Ricius auf mächtige Mäzene
und eine diskursbestimmende höfische Rezipientenschicht bauen konnte.
5 Zum Beispiel quod zusammen mit AcI (De pace fidei I,1, S. 3,9–4,3 : ex qua elicuit quod pauco-
rum sapientum omnium talium diversitatum […] peritia pollentium unam posse facilem quandam
concordantiam reperiri), Ablative auf -i statt -e (meliori) ; vgl. die Bemerkungen in Opera omnia
1932–2010, Bd. 7, xxxiii–xxxiv und Bd. 12, xxi–xxii.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593