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Philosophie 187
Talmudica […]
commentariola
Wirkung
Auf einen direkten Wunsch Kaiser Maximilians I. geht eine andere Überset-
zung aus dem Hebräischen zurück. 1519 veröffentlichte Ricius seine Talmudica
novissime in Latinum versa periocunda commentariola („Jüngst ins Lat. übersetzte,
sehr erfreuliche kleine talmudische Schriften“). Maximilian wünschte sich eigent-
lich eine Übersetzung des gesamten Talmuds. Von den 63 Traktaten der Mischna
– des Kerns des Talmuds – übersetzte Ricius schlussendlich aber nur die zwei hier
vorgelegten, nämlich Berakhot (Vorschriften v.a. zu Segenssprüchen und Landwirt-
schaft) und Sanhedrin (Vorschriften zum Gerichtswesen). Das Projekt der Talmud-
Übersetzung ist vor dem Hintergrund des Disputs von Johannes Reuchlin mit den
Kölner Dominikanern um den Wert jüdischer Literatur zu sehen, des sogenannten
„Pfefferkorn-Streits“ (vgl. dazu z.B. Trusen 1987). Im Jahr 1509 war es dem – wie
Ricius – zum Christentum konvertierten Juden Johannes Pfefferkorn gelungen, von
Maximilian die Erlaubnis zur Einziehung von angeblich christenfeindlichen jüdi-
schen Büchern zu erhalten. Als der mehr oder weniger als Strohmann der Kölner
Dominikaner agierende Pfefferkorn bei der Umsetzung seines Plans auf erheblichen
Widerstand stieß, beauftragte Maximilian 1510 vier deutsche Universitäten und
weitere Gelehrte, darunter auch Reuchlin, mit einem Gutachten zur Duldung jüdi-
scher Bücher. Reuchlin sprach sich deutlich für eine Duldung aus und insbesondere
seine Verteidigung des Talmuds machte auf Maximilian Eindruck. Der scharfe An-
griff auf Reuchlin in Pfefferkorns Schmähschrift Handspiegel und Reuchlins Replik
im Augenspiegel (beide 1511) lösten einen mehrjährigen Streit aus, in dem sich auf
der einen Seite Pfefferkorn und die Kölner Dominikaner, auf der anderen Seite
Reuchlin und die Elite der deutschen Humanisten gegenüberstanden. Zumindest
aus literarischer Sicht gipfelte dieser Disput in der Satire der Epistolae obscurorum
virorum („Dunkelmännerbriefe“ ; 1515–1517), in denen die Kölner Dominikaner
durch fingierte Briefe an den für sie eintretenden Theologen Ortwin Gratius vor
aller Welt lächerlich gemacht wurden. Im 1517 erschienenen zweiten Teil der Dun-
kelmännerbriefe wird auch Ricius unter den Humanisten an Reuchlins Seite ge-
nannt (epist. 12 und 59). Eine Form der Unterstützung war offenbar auch Ricius’
Übersetzung des Talmuds für Kaiser Maximilian, dessen Interesse für die jüdische
Literatur durch den Streit gestiegen war. In dieser Situation lag es für Maximilian
nahe, seinen einschlägig ausgewiesenen Innsbrucker Hofarzt für eine Vermittlung
des Talmud sorgen zu lassen, für den Reuchlin so eindrucksvoll argumentiert hatte.
Paulus Ricius gelangte in den Diensten Maximilians I. und Ferdinands I. zu
Reichtum und Ansehen. Für einen geborenen Juden war das damals eine außer-
ordentliche Karriere. Ricius’ Kompetenz als Hebraist, Kabbalist, Philosoph und
Arzt zeichnete ihn bei den Intellektuellen Europas aus. Er stand mit zahlreichen
Gelehrten seiner Zeit in brieflichem Kontakt. Erasmus von Rotterdam – dem er
1525 übrigens ein erfolgreiches Rezept gegen Steinleiden verschrieb – lobte ihn
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593