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Beredsamkeit 301
theologische
Gelehrsamkeit
zweite
Weihnachtsrede
souveräner
Umgang mit dem
Thema
Osterrede
lassen meine Tränen mich es aussprechen – allen Jammers übervolle Tal gekommen. Oh,
wer kann diese unermessliche Selbsterniedrigung der Göttlichkeit[?], wer kann die uner-
messliche Güte Gottes genug bewundern und bestaunen ?
Die in solchen Passagen zutage tretende Emotionalität hindert den Redner aller-
dings nicht daran, mithilfe zahlreicher Exempla, griechischer Fachterminologie und
v.a. mit dem schon genannten Exkurs zur Zweinaturenlehre auch sein theologisches
Fachwissen unter Beweis zu stellen.
Etwas klarer gegliedert als diese Rede ist ihr zwei Jahre später gehaltenes Gegen-
stück, die Oratio in natalem Christi servatoris nostri („Rede zum Geburtstag unseres
Heilands Christus“ ; Bl. 188r–195v) :
Alle Menschen interessieren sich für neue und spannende Geschichten ; die folgende Rede,
die von der Geburt Jesu berichtet, wird jedem etwas Interessantes bieten (Bl. 188r–189r).
Vor der Erlösung durch Christus war das Menschengeschlecht aufgrund des Sündenfalls
fest in der Gewalt des Teufels ; niemand konnte es retten (Bl. 189r–190v). Deshalb musste
Christus diese Aufgabe übernehmen (Bl. 190v–191r). Er kam unter Augustus zur Welt, als
dieser eine große Volkszählung angeordnet hatte (Bl. 191r–192r), und zwar in erschüttern-
der Armut und Niedrigkeit (Bl. 192r–193r). Jeder Hochmütige lasse sich das eine Lehre
sein (Bl. 193rv) ! Welch ein Gegensatz zwischen der Hilflosigkeit des Knäbleins und seinen
Wohltaten für die Menschheit (Bl. 193v–194v) ! An seinem Geburtstag sollen Freude und
Dankbarkeit herrschen (Bl. 194v–195v) !
Auch dieser Redner setzt die erwähnten ‚geistlichen‘ Stilmittel gekonnt ein, wobei
er eine Vorliebe für die Figur der Apostrophe hat : Immer wieder wendet er sich di-
rekt an Christus sowie an sein Publikum, wobei er einmal sogar so weit geht, einen
besonders hochmütigen Hörer zu fingieren, als negatives Beispiel herauszugreifen
und scharf zurechtzuweisen (Bl. 193rv). Dem souveränen Umgang mit den zur Ver-
fügung stehenden rhetorischen Möglichkeiten entspricht die ungewöhnliche Zu-
versicht, die im Proömium zur Schau getragen wird : Im Gegensatz zur üblichen
Praxis wird nicht versucht, das Wohlwollen des Publikums dadurch zu gewinnen,
dass die eigene rhetorische Inkompetenz und Verzweiflung angesichts der Größe
des Gegenstandes betont wird, sondern aus der Not eine Tugend gemacht : Das
Thema ist so groß und vielfältig, dass es schon für sich genommen hinreichen wird,
die Hörer zu begeistern (Bl. 188v).
Die Oratio in Christi ex mortuis excitati triumphum („Rede auf den Triumph des
von den Toten auferstandenen Christus“ ; Bl. 106v–112r) dürfte nach Ausweis ihres
Titels am Ostersonntag des Jahres 1584 gehalten worden sein.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593