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356 Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands
II. von Tirol (1595)
Rozonus
Compendium würden, dass die Welt v.a. durch Wasser bedroht werde. Über das Ausmaß einer be-
fürchteten Überschwemmungskatastrophe war man ebenfalls uneins. Die am wei-
testen verbreitete Furcht war wohl die vor einer unmittelbar bevorstehenden neuen
Sintflut. Einige gelehrte Astrologen wandten sich in ihren Schriften gegen eine
solche Interpretation und vertraten die Meinung, es sei nur mit partiellen Über-
schwemmungen zu rechnen : Nicht die ganze Erde, sondern nur Italien, Deutsch-
land oder irgendein anderes Land würde in den Fluten verschwinden. Auch den
Zeitpunkt der Überschwemmungen legten viele nicht zwingend auf 1524 fest ; die
Auswirkungen der Konjunktionen müssten nicht unmittelbar auf diese folgen, sie
könnten auch erst einige Jahre später stattfinden. Berichte von Leuten, die ihr Hab
und Gut verkauften, um sich auf die Berge zurückzuziehen, oder sich weigerten, ir-
gendwelchen Geschäften nachzugehen, beweisen jedoch, dass die Vorhersagen eines
Weltuntergangs zumindest auf manche Zeitgenossen durchaus großen Eindruck
machten (vgl. Thorndike 1959, 178–233 ; Talkenberg 1990).
An der Sintflutdebatte beteiligte sich auch Marcus Antonius Rozonus, Doktor
der Freien Künste, der Medizin und der Theologie. Sein Lebensweg lässt sich – ru-
dimentär – hauptsächlich aus in seinem Werk verstreuten Angaben rekonstruieren.
Aus Treviglio in der Lombardei stammend, studierte er gegen Ende des 15. Jhs. in
Pavia, wo er u.a. gründliche Kenntnisse der Astrologie erwarb. In seinen verlorenen
Commentarii de providentia, fato et ceteris („Kommentare über die Vorsehung, das
Schicksal usw.“) verteidigte er die Astrologie gegen Angriffe durch ihren berühmten
Gegner Pico della Mirandola. Seit 1501 betätigte sich Rozonus als Arzt, spätestens
1516 praktizierte er in Trient (Morizzo 1889, 21), wo er bei Bedarf auch an den
Hof Bischof Bernhards von Cles gerufen wurde. Als er einmal nach Cles geholt
wurde, um Bernhards Bruder Balthasar, den Hauptmann des Nonstals und des
Sulzbergs, zu behandeln, entwickelte sich beim Abendessen zwischen Rozonus, der
mittlerweile zu einem Gegner der Astrologie geworden war, und dem Bischof ein
Gespräch über die Macht des Schicksals. Da sich der Bischof interessiert zeigte,
widmete ihm Rozonus seine Schrift über die Sintflutvorhersagen.
Das in Nürnberg Anfang Januar 1524 gedruckte Compendium de levitate va-
ticinantium futuros rerum eventus et vanitate pronosticantium diluvium („Kurze
Abhandlung über den Leichtsinn derer, welche künftige Ereignisse prophezeien,
und das leere Geschwätz derer, welche eine Sintflut vorhersagen“) ist eine ratio-
nalistische Abrechnung mit der Astrologie. Obwohl Rozonus von den aktuellen
Sintflutprognosen ausgeht, betrifft seine methodologische Kritik an der grundsätz-
lichen Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns mit den Mitteln der Astrologie die
Fundamente der gesamten Disziplin. Dabei greift er die Astrologie nicht, wie sonst
üblich, mithilfe theologischer und philosophischer Argumente an, sondern zeigt
v.a. ihre inneren Widersprüche und technischen Schwächen auf.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593