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528 Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669)
Wunder
ordo-Gedanke zum Thema Eucharistie auf eine Weise, die es zu einer interessanten theologiege-
schichtlichen Quelle macht.
Nach einer geschichtlich-landeskundlichen Einleitung, in der lokalhistorische
Fakten in Beziehung zu alttestamentlichen Ereignissen gesetzt werden (Kap. 1–3),
referiert Milensio den Hergang des Wunders selbst (Kap. 4). Dieser sei hier zu-
nächst kurz nacherzählt :1
Um seinem Vorrang vor dem Volk Ausdruck zu verleihen, lässt sich der Ritter Oswald
Milser im Jahr 1384 die Osterkommunion in Gestalt einer großen, eigentlich dem Priester
vorbehaltenen Hostie reichen. Die Bedenken des Geistlichen überwindet er durch Dro-
hungen. An der linken Seite des Altars stehend und bedeckten Hauptes empfängt er die
Kommunion. Kaum hat er die Hostie berührt, als er bis zum Knie in den Boden einsinkt ;
der Altarstein, an dem er sich zu halten versucht, wird weich, so dass sich seine Finger
eindrücken wie in Wachs. Reuig bittet er Gott um Verzeihung und ersucht den Priester,
ihm die Hostie aus dem Mund zu nehmen : An dieser wird Blut sichtbar. Der Boden gibt
Oswald wieder frei. Um sein Vergehen zu büßen, unterwirft er sich im Stift Stams strenger
Askese ; dort stirbt er zwei Jahre später. Seine Frau, die der Kirche ferngeblieben ist und da-
her von einem Boten über den Vorfall unterrichtet wird, schenkt diesem keinen Glauben :
Eher, sagt sie, werde der Hackstock neben ihr Rosen tragen, als dass die Erzählung wahr
sei. Auf der Stelle erblühen die besagten Rosen, doch die Frau reißt sie ab und zertritt sie.
Für ihren hartnäckigen Unglauben wird sie mit Wahnsinn bestraft ; in den Wäldern wie ein
Tier umherschweifend, geht sie elend zugrunde.
Bei seinem Kommentar zu dieser Geschichte setzt Milensio im Anschluss an Fra-
gen, die man sich damals zum Thema Bluthostien häufig stellte (LThK 2, 539), zwei
Schwerpunkte, einen politisch-gesellschaftlichen und einen im engeren Sinne theo-
logischen. Jener verdichtet sich im Begriff des ordo („Stand“). Was Milensio Os-
wald Milser vorwirft, ist sein Versuch, den Unterschied zwischen Priester und Laien
in Frage zu stellen, der in Milensios Augen von allen hierarchischen Abstufungen
die grundlegendste ist : In dieser Hinsicht müsse unter den Laien jene Gleichheit
herrschen, die Jesus unter den Aposteln zum Prinzip erhoben habe, obwohl diese
ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehörten. So sehr sich Oswald
als Herrschaftsträger über die Untertanen erheben könne, als Christ sei er ihnen
1 Ausführlichere Darstellungen finden sich im Dillinger Druck von 1580, in einem von einem Stam-
ser Stiftsbruder 1581 verfassten lat. Epitaph (Tinkhauser/Rapp 1855–1891, Bd. 3, 97–98), in der
Chronik Wolfgang Lebersorgs (s. hier S. 495–496 ; vgl. Haidacher 2000, 174), im Abdruck einer
1884 zum fünfhundertjährigen Jubiläum gehaltenen Festpredigt von Johann Baptist Hittaler, bei
Tinkhauser/Rapp 1855–1891, Bd. 3, 93–96, Bader 1909, 9–11 und Oberhofer 1974, 38.
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- TYROLIS LATINA
- Untertitel
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Band
- 1
- Autoren
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Herausgeber
- Karlheinz Töchterle
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 602
- Schlagwörter
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593